der bedrohte | freiherr

killGravenreuth

günter freiherr von gravenreuth war eine schillernde figur. ich lernte ihn kennen, als ich mitte der 1980er jahre nach einem anwalt für mein frisch gestartetes computermagazin → “bit, byte, gebissen” suchte, der sich mit dem urheberrecht von software auskannte – damals ein juristisch völlig neues feld. gravenreuth gab mir gern ein interview und kam auch in den jahren danach noch ein-, zweimal in meinen sendungen vor.

eigentlich als “günter dörr” geboren gab er sich ein freiherrliches outfit mit feinen stoffen, krawatte und einer repräsentierbaren wohnung. seine kanzlei befand sich mitten in münchen. gravenreuth ging aus eigenem antrieb (und teilweise finanziert von einer damals sehr hektischen software-industrie) gegen junge leute vor, die computerprogramme raubkopierten und vertrieben. seine methoden erinnerten an detektivarbeit mit nicht ganz sauberen methoden.

nicht nur bei den frühen computerspielern, sondern auch in anderen bereichen der softwareszene hatte er einen sehr schlechten ruf, weil er zum beispiel in computerzeitschriften fallen in form von fingierten kleinanzeigen aufgab oder in computerläden jugendliche beim kopieren von disketten abfing und dann bis nach hause begleitete. in den 1990er jahren war er der deutsche abmahnanwalt. seine karriere, falls er je eine hatte, ging steil bergab, weil er sich kapriolen leistete, wie zum beispiel die beschlagnahmung der domain der taz, also von www.taz.de. die taz hatte ihm, völlig aufgeschreckt, abmahngebühren überwiesen, gravenreuth behauptete, wie in vielen anderen fällen, nie etwas bekommen zu haben. als man das geld (und andere angeblich nie erhaltene gelder) dann bei der durchsuchung seiner kanzlei fand, kam er wegen betrugs selbst vor gericht. sein desaströses handeln hörte damit nicht auf, es kann sein, dass ihm finanziell das wasser bis zum hals stand. jedenfalls machte sich gravenreuth erneut es betrugs schuldig und wurde zu über einem jahr freiheitsstrafe ohne bewährung verurteilt. er trat die haft nicht an, sondern erschoss sich vorher.

hier ein brief von gravenreuths kanzlei an mich, späte 1980er jahre. screenshots waren damals noch nicht möglich, also hatte er mit einer kleinbildkamera drei “screenshots” seines bildschirms aufgenommen. sie zeigen ein aus dem untergrund kommendes computerspiel, in dem der spieler gravenreuth umbringen soll. er, bzw. sein partner, → bernhard syndikus (auch eine schillernde figur), fanden das gar nicht komisch.

gravenreuthBedroht

gravenreuths schreiben an den zündfunk, mit “screenshots”

hier ein → fernsehmitschnitt von 1988, als gravenreuth sehr typisch jovial auftrat.

rundfunkrecherche | stabi berlin

ms_imAufzug_StabiBerlin

selfie im aufzug der staatsbibliothek. november 2015

wäre ich an einer promotion interessiert, es ließen sich allein aus den zeitschriften → hier in der berliner staatsbibliothek/preussischer kulturbesitz zahllose doktorarbeiten zur rundfunkgeschichte schreiben. allein schon die nur wenige jahre bestehende pommersche rundfunkzeitung ist ein schatz. wo sonst fände man einen aufruf “ordentlicher” rundfunkhändler, die windigen kollegen, die vom radioboom auch was abbekommen wollen, zu dissen?:

radiowarnung_1929

kauft nicht bei ortsfremden händlern! dezember 1929

hier das deckblatt der zeitschrift:

pommerscheRundfunkzeitung_1929

pommersche rundfunk zeitung, erstausgabe dez. 1929

noch spannender sind die schlesischen wellen. hier das titelblatt der ausgabe vom 21. juni 1931. hörspiele sind beim gemeinen hörer unbeliebt, weil sie zu anspruchsvoll sind. lieber leichte unterhaltung mit musik (aus den charts, würde man heute sagen):

schlesische-wellen-1931

schlesische wellen 1931 beklagen den “hörspiel-überfluss”

am anfang war die | langeweile

langeWeileImRundfunk

in einem text von 1930 in der zeitschrift der querschnitt schreibt ein 34jähriger mann eine fundamentalkritik am rundfunk. er nennt beispiele wie das requiem von bertolt brecht, die sich den möglichkeiten des rundfunks gut “angepasst” hätten. aber ein eigenes genre – “Eigenkunstwerk” – hätten die sender auch nach 6 jahren noch nicht hervorgebracht. der “rein akustische Film”weekend von walter ruttmann aus dem jahr 1929 sei immerhin “ein kühner Versuch” gewesen.

“Im Anfang des Rundfunks war die Langeweile. […] Entsetzliche Dinge wurden damals getrieben. Das Musikprogramm wurde aus vermoderten Konzersälen bezogen, Literatur aus der ‘Gartenlaufbe’, der Vortragsteil legte Wert auf die Sitten und Gebräuche der Minnesänger (unter dem Titel ‘Volksbildung’), Legionen Gurken wurden eingelegt (‘Für die Hausfrau’)”

das habe sich gebessert, aber sei noch weit von allem entfernt, was er, der autor sich vorstelle.

wer traute sich so zu schreiben?

hans flesch, ein mediziner aus frankfurt, der ziemlich jung und frech den → ersten hessischen sender aufmischte, dann als intendant nach berlin wechselte, wo der sender “funk-stunde berlin AG” hieß. flesch war nicht nur radikaldemokratisch im umgang mit seinen autoren (brecht, benjamin, adorno) und komponisten (hindemith, sein schwager), sondern suchte besessen nach rundfunk-eigenen ausdrucksformen. seine kritik in der zeitschrift ist also auch eine selbstkritik.

RundfunkpioniereVorNazischergen

rundfunkpioniere in untersuchungshaft, 1933. foto: bundesarchiv

die steile karriere endete abrupt, als die nazis im januar 1933 die macht ergriffen. die liberalen rundfunkpioniere wurden im laufe des frühjahrs und sommers der reihe nach verhaftet. das foto oben aus dem bundesbildarchiv zeigt flesch als zweiten von rechts, neben kurt magnus im KZ oranienburg. ihm und den anderen wurde der prozess gemacht, jedoch ohne signifikante strafen. als halbjude überlebte flesch den nationalsozialismus nur, weil seine frau arbeiten durfte. am ende des kriegs meldete er sich freiwillig als arzt an die front, baute lazarette auf – und gilt seit april 1945 als verschollen. die amerikaner hätten ihn gern als ersten intendanten des RIAS eingesetzt, aber flesch war wohl längst tot.

tja, und → walter ruttmann, den flesch so lobt, weil er das tonkino gemacht hat, später hörspiel genannt? ruttmann arrangierte sich nicht nur mit den nazis, er produzierte für die UFA NS-filme. mit seinen ästhetischen vorstellungen war er leni riefenstahl ein vorbild. er wurde ihr berater in mehreren blut & boden-filmen. das hätte auch so weiter gehen können, wäre ruttmann nicht 1941 an einer embolie gestorben.

russisch-türkische | kriege

RomeynDeHooghe-SchlachtBeiChocim-1673die schlacht bei chocim 1673 (hier siegt polen)

1672, also vor knapp 350 jahren, wurde der keim für elf (!) russisch-türkische kriege gelegt, die erst mit dem ersten weltkrieg endeten, weil der quasi alles an brutalität und größenwahn in den schatten stellte. der 1672–1676er-krieg fand zwischen den osmanen (türken) und den polen statt. polen verlor. unmittelbar im anschluss griffen die osmanen ein gebiet an, das der russische zar für sich beanspruchte. was könnte das wohl für ein gebiet gewesen sein?: die ukraine.

der vorletzte der elf kriege war der krim-krieg 1853–1856, bei dem die türken die krim verloren,

da schließt sich ein kreis zu heute, eigentlich schließen sich mehrere kreise. alle russisch-türkischen kriege waren religions-geprägt. die türken und russen lieferten sich viele schlachten in einer gegend, die beide gar nichts angeht, nämlich dem mittleren balkan. jugoslawien war eine russisch (sowjetische) fehlkonstruktion, woraus der letzte balkankrieg resultierte, wo sich christen und muslime massakrierten.

die zentraleuropäer sahen bei den vielen kriegen relativ entspannt zu. das deutsche reich gab es so noch nicht, also waren die zentralmächte die drei schön zentralistisch von königen und kaisern regierten länder frankreich, england, österreich. alle drei waren allerdings auf eines scharf (und gaben sich dann immer sehr großzügig, als gastgeber der friedenskonferenzen, zum beispiel in wien): wenn der, ironisch-verächtlich kranker mann am bosporus genannte türke endlich stirbt, dürfen wir zentralmächte den russen nicht das ganze kaputte reich dort überlassen. rohstoffe! zugang zu flüssen und meeren!

soweit ein mini-parcours durch paar jahrhunderte weltgeschichte. beide großreiche, das türkische und das russische, hatten durch diese endlosen raubzüge soviele traumata erlebt, dass sie ganz klein wurden. aus diesem minderwertigkeitskomplex ist ein klein wenig zu erklären, wie sich putin und erdogan heute aufführen. was das aktuelle ISIS-säbelrasseln angeht, spielt das aber nur eine untergeordnete rolle.


*chocim heißt heute chotyn und liegt im westen der ukraine. man muss sich mal angucken, wie “beliebt” diese kleine stadt (zurzeit 11.000 einwohner) war.

  • 1769 nahmen die russen sie ein,
  • 1788 die österreicher,
  • 1806 wieder die russen,
  • 1918 ein halbes jahr lang die österreicher,
  • danach schlug man chotyn zu rumänien,
  • 1940 fielen wieder russen ein,
  • ein jahr später war es rumänisch,
  • ab 1945 dann sowjetisch,
  • und seit 1991 gehört chotyn zur ukraine.

 

augrym stones | am bett

northernChristianAdvocate

da lese ich also im northern christian advocate vom 24. märz 1887 einen sehr fein geschriebenen artikel über die art und weise, wie die menschen zählten und zählen, und werde mit chaucer bedient. der beschreibt in seinem ende 14. jh. erschienen text → the canterbury tales einen mit starkem sexualtrieb ausgestatteten buchhalter und astrologen nicholas. nicholas hat seine rechensteine fein aufgereiht auf einer ablage am kopfende seines betts untergebracht:

This clerk was cleped hende Nicholas.

His augrym stones layen faire apart,

On shelves couched at his beddes heed;

augrym oder augrim ist mittelenglisch für algorithmus. danke, christlicher advokat aus syracuse im staate new york!

hisAugrimStones

“heiliger” krieg und kalifat | 1916

dieser text liest sich top aktuell, ist aber 100 jahre alt. erster weltkrieg, schlachtfeld nordafrika und naher osten. fundamentalistische muslims bekämpfen die britischen truppen. man beachte die wortwahl des “religious rambler”, der den langen artikel in der freitagabend-ausgabe des harrisburg telegraph am 4. februar 1916 verfasst hat:

holy-moslem-war---harrisburg-telegraph---4.-februar-1916der harrisburg telegraph vom 4. februar 1916

“Aus dem östlichen Kriegsschauplatz erreichen uns Nachrichten, die der Durchschnittsleser nicht verstehen kann. Aber sie öffnen das Tor zu einem der romantischsten Aspekte des Kriegs. Zwei schillernde Kräfte von Fanatikern, ausgestattet mit modernen Waffen, versuchen, die Erlebnisse des Propheten Mohammed in der Frühzeit des Islam zu wiederholen. Die Welt erlebt die versuchte Rückkehr zu jenen primitiven Lebensumständen, die der Prophet und seine Anhänger einrichteten, als Horden von Arabern unter seiner Führung große Teile der damals bekannten Welt einnahmen.

Wenn die Depeschen wahr sind, enthüllen sie schwerwiegende Zustände. Diese Muslime verachten die heute üblichen Überlegungen wie man einen Krieg führt. Sie schließen keine Verträge ab und lachen über den Tod. Sie kämpfen für das Paradies. Wie auch immer es ausgeht, sie gewinnen. Wenn sie die Christen töten, verdienen sie sich das Paradies; wenn sie beim Kampf gegen die Christen von den Christen getötet werden, gibt es dieselbe Belohnung. Wenn die Wahhabiten und die Sanusya tatsächlich den Aufuf des Kalifen zu einem “heiligen” Krieg befolgen, ist die Lage ernster als wir sie in diesem kurzen Artikel beschreiben können.”

[aus dem englischen übersetzt]

gehen wir sechs jahre weiter, so finden wir in der londoner TIMES einen bemerkenswerten artikel des asien- und islamkenners arthur moore, der versucht, die “freundlichen besuche” britischer truppen in asien aus der sicht des muslim zu sehen:

asian_mussulman---the-times-1922

die TIMES vom 10. juli 1922

“Versetzen wir uns einmal in die Lage irgend eines Zentralasiatischen Muselmanns und sehen uns an, wie er [uns Briten] sieht. Ich habe mit vielen gesprochen und werde nichts überzeichnen. Nach dem Waffenstillstand schickten wir Unmengen an Truppen in den Kaukasus, der weitgehend Muselmännisch ist. Weit übers Kaspische Meer hinweg hatten wir sogar Truppen im berühmten Merw [Turkmenistan]. Die sorgten anfangs für Stabilität, und wir gaben bekannt, wir seien gekommen, um die Bolschewisten fern zu halten. Aber als die Bolschewistische Bedrohung begann, sich zu materialisieren, waren wir es, die verschwanden. Warum waren wir dann überhaupt dorthin gekommen? Der Islam hat seine eigene Antwort. Wir gingen dahin, um die Ölfelder von Baku unter unsere Kontrolle zu bringen – aber wir waren nicht bereit, um sie zu kämpfen.”

deutschland schachert | 1915

der blick aus dem ausland auf deutschland ist immer lohnenswert. der seattle star berichtete vor genau 100 jahren von zwei kriegsereignissen: österreichische torpedos haben die ancona versenkt, und mit ihr auch einige amerikanische staatsbürger. und: deutschland ist zu friedensgesprächen bereit, aber…

SeattleStar_Nov1915

… wenn man genau liest, ist die kriegsmaschinerie ungebremst am laufen, und deutschland schachert. der deutsche botschafter (von bernstorff) kam gerade aus dem reich zurück nach washington und ließ den präsidenten (wilson) wissen, dass der deutsche kaiser (wilhelm II, ein kriegtreiber, wenn nicht kriegsgeiler) gütig auf belgien verzichte, aber dafür polen haben möchte. die alliierten lehnten ab. johann heinrich von bernstorff muss übrigens ein bemerkenswerter diplomat gewesen sein. als einer der wenigen aus dem umfeld des kaisers nahm er position gegen den kaiser ein. er war ein erklärter gegner des von deutschland vorangetriebenen u-boot-kriegs. und man sagt von bernstorff nach, dass er es war, der woodrow wilson lange davon abhielt, gegen deutschland in den krieg zu ziehen.

hier der artikel aus dem seattle star im detail:

SeattleStar_Nov1915_germanyPeace

der seattle star vom 10. november 1915: deutschlands dreistes friedensangebot

ich ging kurz auch der ersten schlagzeile nach: ein österreichisches u-boot versenkt das passagierschiff ancona. wikipedia klärt hier auf: die ancona (ein ozeandampfer) mit 208 passagieren an bord wurde südlich von sardinien ohne vorwarnung beschossen und versenkt, und zwar von einem deutschen u-boot des typs U-38, unter führung eines deutschen marineoffiziers (max valentiner), aber, warum auch immer, unter österreichischer flagge. die U-38 war eins der modernsten kriegswaffen des kaisers und vandalierte durch mehrere weltmeere.

genfer wellenplan 1975 | usenet

ich habe eine lücke in meiner datenbank mit interviews entdeckt. sie liegt irgendwo bei 1999/2000, als ich von DAT auf bandloses digitales aufnehmen überging. weil ich nach einer sendung suchte, von der ich das jahr nicht mehr wusste, googelte ich nach “zeitzeichen → genfer wellenplan“. und stieß auf eine diskussion im usenet, einer art vorgänger und lange zeit parallelgänger des internet. die → diskussion fand ab 21.11.2000 im usenet-forum (der “newsgroup”) de.alt.hoerfunk statt.

zeitzeichenWellenplan_newsgroup

darauf folgte eine diskussion über das korrekte datum. ich konnte durch dieses “internet-gedächtnis” das datum der sendung lokalisieren und fand bei meinen DAT-cassetten tatsächlich einen mitschnitt. in dem mitschnitt erwähnte ich den namen eines meiner gesprächsparter, herbert götze. und die suche nach ihm in meinem backup-katalog auf gebrannten CD-Rs förderte zwei treffer hervor, beide mit dem kompletten interview. die eine CD-R war nur noch teilweise lesbar – nicht untypisch für eine beklebte CD-R (wusste ich damals noch nicht, dass das nicht gut ist). aber auf der anderen CD ist das interview komplett drauf und wird jetzt in einer DLF-sendung über mittelwelle im dezember wieder verwendet.

sound fx 1926 | im berliner radio

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titelblatt der Funk=Stunde von 1926

in der berliner staatsbibliothek unter den linden stieß ich auf diese mir bisher unbekannte zeitschrift von 1926. sie beschreibt mit zahlreichen fotos die ersten drei jahre des rundfunks in berlin. es gibt meines wissens keine veröffentlichung aus der frühzeit des radios in deutschland, die so kompakt und souverän die fortschritte und den stand des sendens beschreibt. die BBC war dem berliner rundfunk mit ihrem üppigen “year book” voraus. (es ist im wikipedia-artikel zur BBC zu sehen; ich habe fast alle ausgaben aus den 1920er jahren vor einiger zeit über ebay ersteigert oder in london antiquarisch gekauft.)

aus dem berliner jahrbuch ist auch das foto unten. es zeigt eine in die wand eingelassene badewanne, die am rand des größeren senderaums stand. sie diente dazu, regen, motorbootgeräusche und plätschern wiederzugeben. hörspiele hießen damals zwar auch manchmal schon hörspiele, meist aber “spiele” oder “sende-spiele”.

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wer die aufnahmen im berliner sender gemacht hat (ürigens alle in dem heft, ist nicht herauszufinden. “transocean” kommt auch in anderen zeitschriften der 1920er jahre oft vor, meit mit hervorragenden aufnahmen.

britischer propagandafilm | elendes deutschland 1946

britische dokumentation über die soeben besiegten deutschen…

… und was man mit ihnen machen soll. der 20 minütige film schildert ein “zurecht” auf den hund gekommenes deutschland. der britische kommentator lässt kein gutes haar an dem volk, das europa in schutt und asche gelegt hat. wir spüren, wie aufgeladen die lage unmittelbar nach dem sieg der allierten war. wir sehen (und hören) deutsche, die deutsche suchen, die verwahrlost aus den bunkern kommen. wehrmachtssoldaten werden vorgeführt und müssen zunächst zeigen, ob sie das SS-tattoo tragen, nämlich in der linken achselhöhle. die krupps, so der film, sind verhaftet. am schluss sieht man deutsche juristen, die für ihren dienst in der britisch besetzten zone zu richtern vereidigt werden.

tief verschuldetes GB | 1915

dieser kommentar im Täglichen Cincinnatier Volksblatt vom 8. oktober 1915 erinnert an die aktuelle griechenlandverschuldungskrise. waren gegen anleihen (kredite). die billigen anleihen, mit denen nach Einführung des Euro vor allem deutsche banken griechenland überschüttet haben – und die griechen, die im gelddrausch blind alle arten von waren kauften, natürlich gern auch deutsche…. und dann das, großbritannien und die USA vor genau 100 jahren:

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Tägliches Cincinnatier Volksblatt 1915 über die tiefe Verschuldung der Briten

noam chomsky | isoliertes amerika

der amerikanische politikwissenschaftler, philosoph und friedensforscher noam chomsky nahm sich anfang der woche an der new yorker new school eines seiner lieblingsthemen an: die international isolierten USA. an diesem leitmotiv entlang wandert er durch die welt amerikanischer aggression und ordnet den iran-deal der G5+1 staaten historisch ein. eine wie immer ergiebige, fundierte und glasklare rede, hier ➡️ komplett nachzuschauen.

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noam chomsky am 21.9.2015 an der new school in NYC

grüner vorhang | bei regen

gestern hatte ich auf dem weg zur unibibliothek den grünen minischirm dabei, als es mächtig anfing zu regnen. das rief geradezu nach einer fotoserie, einhändig, mit dem smartphone, 14 mio. pixel.

grünerRegenschirmregen mit grünem regenschirm. foto: ms/dpa

warum unibibliothek?: weil mir lioba n. vom telekommunikationsmuseum in ffm den tipp gab, mir mal die deutsche verkehrszeitung anzusehen. nie davon gehört. die unibibliothek hat nur einige ausgaben sehr früher zeit, nämlich von 1885. hier das label am deckblatt:

allgemeineDeutscheVerkehrs-Zeitung_1875unibibliothek köln: deckblatt der verkehrs-zeitung von 1875

slow | west (film)

Caren_Pistorius_slowWestcaren pistorius spielt die schottische bauerstochter rose. foto via → prokino

slow west ist ein in der tat langsamer western mit weitgehend unbekanntem personal, was ihn besonders sympathisch macht. ich rate, nur den → deutschen wikipediaartikel dazu zu lesen, denn der viel ausführlichere englische gibt die pointe preis.

im grunde ist slow west eine parabel über einseitige liebe, die selbstverständlich (wie schon beim → jungen werther,* einem bestseller-roman von 1774) tödlich endet. im filmplakat kommt die angebetete bauerntochter rose (caren pistorius) gar nicht vor, welche im bild oben zu glücklichen zeiten in schottland zu sehen ist. später, im noch sehr wilden und dünn besiedelten nordamerikanischen westen um 1870 herum, geht es in ihrem leben wesentlich derber zu.

die latente nebengeschichte, die bis zum schluss durchgezogen wird, ist die der abschlachtung der indianer durch die neuen siedler aus europa. die indianer erscheinen in dem film extrem traurig, sie sind taub vor trauer. im einzigen gebiet, wo sie noch angst und schrecken einjagen können, dem zauberwald, der eine art schlüssel zu rose ist, versagen sie auch, sogar jämmerlich. das drehbuch von john maclean, der auch die regie gemacht hat, setzt ins zentrum der handlung praktisch nur weiße indianerfreunde, also gegner des genozids, die nur eins antreibt: kopfgeld. und auf “wertlose” indianerhäupter gibt es kein kopfgeld, auf rose‘s kopf aber schon.

der aufgeklärteste von allen ist der deutsche (?) schriftsteller werner (andrew robertt), der in dem film quasi vom himmel fällt – und eine sehr gelungene, ganz ungute figur macht… an ihn dachte ich, als gegen ende ein pfaffe aus dem weizenfeld auftaucht. stopp, ich darf nicht mehr verraten.

der film endet mit einer der schönsten schießereien seit langem, exzellentem sound –und einem wirklich wunderschönen tod.

für ein debut ganz prima.

Slow-West-Plakatauf dem kinoplakat fehlt die, um die es eigentlich geht.


*goethes werther von 1774, das finale:

In diesen Kleidern, Lotte, will ich begraben sein, du hast sie berührt, geheiligt; ich habe auch deinen Vater darum gebeten. Meine Seele schwebt über dem Sarge. Man soll meine Taschen nicht aussuchen. Diese blaßrote Schleife, die du am Busen hattest, als ich dich zum ersten Male unter deinen Kindern fand – o küsse sie tausendmal und erzähle ihnen das Schicksal ihres unglücklichen Freundes. Die Lieben! Sie wimmeln um mich. Ach wie ich mich an dich schloß! Seit dem ersten Augenblicke dich nicht lassen konnte! – diese Schleife soll mit mir begraben werden. An meinem Geburtstage schenktest du sie mir! Wie ich das alles verschlang! – ach, ich dachte nicht, daß mich der Weg hierher führen sollte! – sei ruhig! Ich bitte dich, sei ruhig!

– Sie sind geladen – es schlägt zwölfe! So sei es denn! – Lotte! Lotte, lebe wohl! Lebe wohl!«

Ein Nachbar sah den Blick vom Pulver und hörte den Schuß fallen; da aber alles stille blieb, achtete er nicht weiter drauf.

Morgens um sechse tritt der Bediente herein mit dem Lichte. Er findet seinen Herrn an der Erde, die Pistole und Blut. Er ruft, er faßt ihn an; keine Antwort, er röchelt nur noch. Er läuft nach den Ärzten, nach Alberten. Lotte hört die Schelle ziehen, ein Zittern ergreift alle ihre Glieder. Sie weckt ihren Mann, sie stehen auf, der Bediente bringt heulend und stotternd die Nachricht, Lotte sinkt ohnmächtig vor Alberten nieder.

Als der Medikus zu dem Unglücklichen kam, fand er ihn an der Erde ohne Rettung, der Puls schlug, die Glieder waren alle gelähmt. Über dem rechten Auge hatte er sich durch den Kopf geschossen, das Gehirn war herausgetrieben. Man ließ ihm zum Überfluß eine Ader am Arme, das Blut lief, er holte noch immer Atem.

Aus dem Blut auf der Lehne des Sessels konnte man schließen, er habe sitzend vor dem Schreibtische die Tat vollbracht, dann ist er heruntergesunken, hat sich konvulsivisch um den Stuhl herumgewälzt. Er lag gegen das Fenster entkräftet auf dem Rücken, war in völliger Kleidung, gestiefelt, im blauen Frack mit gelber Weste.

Das Haus, die Nachbarschaft, die Stadt kam in Aufruhr. Albert trat herein. Werthern hatte man auf das Bett gelegt, die Stirn verbunden, sein Gesicht schon wie eines Toten, er rührte kein Glied. Die Lunge röchelte noch fürchterlich, bald schwach, bald stärker; man erwartete sein Ende.

Von dem Weine hatte er nur ein Glas getrunken. »Emilia Galotti« lag auf dem Pulte aufgeschlagen.

Von Alberts Bestürzung, von Lottens Jammer laßt mich nichts sagen.

Der alte Amtmann kam auf die Nachricht hereingesprengt, er küßte den Sterbenden unter den heißesten Tränen. Seine ältesten Söhne kamen bald nach ihm zu Fuße, sie fielen neben dem Bette nieder im Ausdrucke des unbändigsten Schmerzens, küßten ihm die Hände und den Mund, und der älteste, den er immer am meisten geliebt, hing an seinen Lippen, bis er verschieden war und man den Knaben mit Gewalt wegriß. Um zwölfe mittags starb er. Die Gegenwart des Amtmannes und seine Anstalten tuschten einen Auflauf. Nachts gegen eilfe ließ er ihn an die Stätte begraben, die er sich erwählt hatte. Der Alte folgte der Leiche und die Söhne, Albert vermocht’s nicht. Man fürchtete für Lottens Leben. Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.

kindertransport | 1938

zwischen 1938 und dem kriegsbeginn im september 1939 gab es für “jüdische” kinder aus privilegierten familien die möglichkeit der legalen ausreise. die nazis hatten mit den briten vereinbart, rund 10.000 kinder im rahmen von “kindertransporten” mit zug und schiff vom deutschen reich über die niederlande nach england zu bringen.

hier ein foto aus der → wiener library in london zum holocaust, london. gale document numberC5006992396. es scheint sich um die fähre von hoek van holland nach harwich/england zu handeln, vielleicht aber auch die ankunftshalle der fähre in harwich. von dort kamen die kinder in züge, die dann ein, zwei stunden später in liverpool street station endeten. sie wurden von ihren gasteltern empfangen, die umgerechnet auf heutige verhältnisse etwa 7000 € pro kind von den jüdischen eltern der kinder bekamen, um sicher zu stellen, dass sie dem britischen steuerzahler nicht auf dem geldbeutel lagen. der betrag war teil des deals. es kann auch gut sein, dass die nazis weitere gebühren forderten. heute erinnert eine → skulptur direkt vor dem bahnhof an die kindertransporte. angefertigt von frank meisler, der auch im rahmen eines kindertransports dem holocaust entging; seine eltern aber nicht.

Kindertransport_Harwich_1938_smallmädchen mit puppe und gepäck, vermutlich harwich, england, dezember 1938

auto von heute | 1940 in istanbul

Tophane_Istanbul-1940tophane, istanbul, postkarte, angeblich 1940, mit reinmontiertem honda von heute

als ich diese postkarte sah, dachte ich: wie grazil und zerbrechlich die autos darauf aussehen. angeblich istanbul 1940; kommt mir etwas älter vor. jedenfalls, um zu sehen, wie sich heutige autos im gegensatz dazu anfühlen, habe ich eins daneben geparkt. breiter und vor allem: bulliger. warum wohl?

kino für | wehrmachtsgefangene

dasWollenWirNichtSehen_dennWirHabenEsSelbstVerbrochen

dieses foto von 1945, vermutlich aus dem bestand eines US-archivs, zeigt deutsche kriegsgefangene im kino. die amerikaner zeigen eigens für sie einen film über die konzentrationslager. ich schätze, es handelte sich um → diesen von mir vor paar wochen beleuchteten film: “todesmühlen”

kleine statistik dieses vielleicht hinreichend repräsenativen ausschnitts des gesamten kinopublikums: wir sehen etwa 25 köpfe. 50% tragen den scheitel präzise gekämmt links. ungefähr 30% haben geheimratsecken. 30% gucken auf die leinwand. der rest guckt weg oder hält sich eine oder zwei hände vors gesicht.

je länger ich das bild betrachte: all die soldaten, die die hand/hände vors gesicht halten, tun das nicht, weil sie den film nicht aushalten, sondern weil sie nicht fotografiert werden wollen.

hatten die nichts davon gewusst? vermutlich doch. dem alter nach zu urteilen waren die wenigsten auf dem foto berufssoldaten, sondern wehrpflichtige, keine freiwilligen. zu sagen: schaut, hier sitzen die kriegsverbrecher, wie sie sich schämen! ist also eher nicht angebracht.