berliner zeitung vom 4. juni 1945
dieser artikel aus der berliner zeitung vom 4. juni 1945 spricht bände über das, was war, und das, was kommen würde. er ist typisch, weil nur einer von zahllosen mit derselben grundhaltung in den tagen, monaten, jahrzehnten, die folgten.
eine leserin hatte der redaktion geschrieben, die KZ-berichte überstiegen all das, was sie sich hätte vorstellen können. alles sei “noch viel schlimmer gewesen, als es sich überhaupt sagen läßt.” zu welchem schluss kommt sie? erste signifikante aussage: sie verlangt von dem blatt, solche schilderungen nicht mehr abzudrucken, denn “man sollte unter alles, was gewesen ist, einen endgültigen strich machen. wir müssen ja alle von vorn anfangen.” wäre diese frau eine der wenigen nicht-mitläuferinnen des hitler-regimes gewesen, hätte sie natürlich nicht so argumentiert. ihr brief argumentiert mit dem trauma: ich bin durch die 180° kehrtwendung (krieg nicht gewonnen, sondern verloren; hitler nicht gott, sondern feige; 1000jähriges reich schon nach 12 jahren völlig kaputt) wie gelähmt, sodass ich nichts mehr davon hören will! typisch für die zeit. und doppelt prekär, weil die befreiungen der insassen von vernichtungslagern erst wenige wochen her waren.
wie reagiert also die zeitung auf den leserbrief? sie wirft der frau diese verdrängung vor und droht ihr mit noch mehr horrorgeschichten:
“welche berichte könnten geeigneter sein, dem volk zu zeigen, von wem es sich regieren ließ, als all die berichte der ehemaligen politischen gefangenen?“
die jungen nachkriegs-zeitungen in den westlichen besatzungszonen gingen wesentlich zärtlicher mit den faschisten um. die antifaschistische, sozialistische berliner zeitung vertritt die sozialistische leitlinie der umerziehung. der mensch, der für den sozialismus noch nicht reif ist, muss dafür reif gemacht werden. der satz oben sagt genau das: du wirst dir das elend ansehen müssen, ich zeige es dir, bis du geheilt bist.
vor allem aber ist bezeichnend, aus welcher perspektive die redaktion argumentiert: sie tut so, als habe sie damit selbst nichts zu tun gehabt, als spräche sie, einen monat nach kriegsende, aus dem weltall auf die berliner exnazis und mitläufer nieder:
“wir sind der meinung, daß der deutschen bevölkerung immer wieder die wahrheit über ein system vor augen gehalten werden muß, das eine seiner stützen in der deutschen passivität fand.“
hier sind wir, und dort ist die deutsche bevölkerung. zwei völlig verschiedene dinge.
das ist die haltung der späteren SED und DDR: faschisten (zurecht) verurteilen und dabei so tun, als seien keine unter ihnen selbst; den nationalsozialismus so von sich weisen, als hätten ihn alle anderen unterstützt, nur sie selbst nicht. daraus wurde sehr schnell das argument, auf dem boden der sowjetischen besatzungszone und 1949 gegründeten DDR gäbe es grundsätzlich keine faschisten, keine rassisten, keine antisemiten mehr. die waren auf verwunderliche weise direkt nach der teilung alle in den westen verschwunden. so die diktion.
damit lag die zeitung (und die spätere DDR) auf derselben linie wie die leserbriefautorin: sie verdrängte. sie schob alles auf den westen und meinte, selbst nichts aufarbeiten zu müssen. in diesem kleinen artikel steckt also auch das scheitern der DDR. und das aufkommen der neonazis nach der wiedervereinigung, vor allem im osten, wie wir wissen.