worthülse “autismus” | minihörspiel wdr 5

Axonometric_cubes_withChaossymbolbild für die mischung aus chaos der umwelt und innerem verlangen nach ordnung. grafik: m.s.

meine redakteurin in wdr5/politikum tamara und ich überlegten am letzten freitag, was das dramolett, also das tagesaktuelle minihörspiel für den heutigen mittwoch sein könnte. wir müssen uns so früh absprechen, weil sich so ein stück nicht an einem tag herstellen lässt. die schritte sind:

  • themenfindung (freitag)
  • sprecher über die wdr sprecherdispo und den sehr kenntnisreichen jörg kernbach anfragen bzw. bestellen (freitag)
  • plot überlegen (wochenende)
  • manuskript schreiben und besprechen (montag)
  • die sprecher aufnehmen (dienstag)
  • produktion, also schnitt, musikkomposition, mischung (dienstag)

das stück war dienstag nachmittag fertig. ein sehr ernstes stück, das den autistic pride day am mittwoch zum anlass nimmt, aus dem innenleben einer autistin zu berichten, die den gebrauch des worts “autismus” als worthülse zutiefst verurteilt. ausgangspunkt dafür war für mich ein blog der im letzten jahr verstorbenen kölner autistin sabine kiefner. vorn und hinten habe ich das motto ihres blogs zitiert:

Das größte Problem autistischer Menschen ist nicht der Autismus, sondern das Leben und Zurechtfinden in einer nichtautistischen Welt.

außerdem habe ich kernargumente aus ihrem offenen brief an stefan niggemeier paraphrasiert, wo sie dessen leichtfertige benutzung anprangert. der größte teil des texts ist rein fiktiv, von mir; es entsteht eine kleine medienkritik von faz über zeit bis bild. tanja haller spielt beide weiblichen rollen, martin groß spricht die zitate.


dramolett “worthülse autismus” mit tanja haller und martin groß

einiges zur aufnahme- und mischtechnik. die schauspieler nahm ich in einem wdr-studio auf. der kollege am pult musste immer wieder die empfindlichkeit des mikrofons ändern, weil die stimmen meist sehr sehr leise sprechen, manchmal aber sehr laut sind. einige takes hat tanja vom mikrofon weg gesprochen; es klingt dann, als würden zwei personen miteinander sprechen, in verschiedenen räumen, obwohl es derselbe aufnahmeraum war. diese stellen sind am anfang und am schluss zu hören, wo die protagonistin zu tanja sagt, sprich langsam, und tanja sie beruhigt.

im screenshot unten ist das mischfenster zu sehen. die zahl der spuren – hier waren es sieben – schwankt je nach produktion. es können auch mal nur vier sein, in anderen fällen 15. ich finde, einer produktion sollte man die zahl spuren nicht anhören.

montageAutisten_screenshotmisch-fenster für die produktion des minihörspiels (bei klick wird es größer)

im oberen bereich sieht man die gesamte komposition. der große fensterinhalt darunter zeigt die einzelnen aufnahmeschnipsel mit ihren wellenformen. auf der ersten spur sitzt tanja, die nach innen gerichtete hauptstimme. sie ist die leitstimme, sie erzählt die geschichte; ich habe ihr deswegen eine minimale kompression gegeben, was man am “fx” links in dieser spur sieht. auch die zweite spur hat einen fx, nämlich einen hall. es gibt in dem hörspiel einige stellen, wo martin “autisten” ruft; diese befinden sich in dieser spur. spur 3 ist leicht links gepegelt; hier habe ich stimmen untergebracht, die ich räumlich trennen wollte. ebenso in spur 4, leicht rechts gepegelt. auf dieser spur befinden sich auch alle autistenfeindlichen pressezitate, gesprochen sehr nah am mikrofon von martin groß.

spur 5 ist eine von mir eigens dafür komponierte musik. ich habe dafür zunächst politikerreden genommen und auf ihre “ich”s reduziert. dann wählte ich zwei (digitale) musikinstrumente – kirchenorgel und jagdhorn – aus und begleitete die politiker (westerwelle, kohl, merkel, bush, rumsfeld, schavan etc.), wie sie “ich”, “mein”, “mir” sagen, mit orgel und jagdhorn. diese musik entstand in einer so genannten sequencing software, also nicht in diesem programm. die spur ist sehr dominant, wenn man sie durch das hörspiel durchzieht. deswegen habe ich sie nur an bestimmten stellen eingesetzt, und ziemlich leise gepegelt. hier ein isolierter part daraus:


autismus-musik; ausschnitt

spur 6 besteht aus einer aufnahme in der u-bahn, direkt nach der schauspieleraufnahme, vom wdr in mein büro. mir ging im kopf herum, welche atmosphäre ich dem stück geben möchte, viele dinge wären möglich gewesen, und nahm einfach mal die atmo in der u-bahn auf, brummelte selbst dabei leise vor mich hin. hier ein ausschnitt:


summen in der u-bahn; ausschnitt

als ich diese atmo unter den text legte, funktionierte das in etwa. mir fehlte aber die wärme, die tiefe. statt die bässe in der aufnahme anzuheben, entschied ich mich für einen kunstgriff, den ich häufig anwende: ich kopierte die atmo auf die spur 7 und stimmte sie tiefer, in diesem fall um 24 halbtöne, also zwei oktaven. die beiden spuren, leicht rechts und links gepegelt, klingen zusammen fantastisch:


summen in der u-bahn; zweistimmig

das besonderen an diesen elementen auf den spuren 5, 6 und 7 ist, dass sie dem hörer kaum auffallen, weil er sich ja auf den text konzentriert, aber das ganze stück in eine stimmung hineinlenken, der er sich nicht entziehen kann. musik leistet das auch, aber meist platter.

von jungen kollegen werde ich oft gefragt, welche software ich für diese produktionen nutze. ich gebe dann meistens diese antwort: es gibt so viel gute schnitt- und mischsoftware, dass es nicht der rede wert ist, ein produkt beim namen zu nennen. dass ich mit einer älteren version von wavelab (und für die musikkomposition mit cubase) arbeite, ist wirklich nebensächlich; ich kenne dieses programme, denke mir manchmal, sie sind mir zu üppig, manchmal, sie sind mir nicht geradelinig genug, aber ich mag sie beide, und sie tun seit über 10 jahren ihren dienst.

nackte soldatentatsachen | buchrezension

der für seine comics, seine historischen und erotischen bildbände bekannte kölner verlag taschen (gegründet und geleitet von benedikt taschen) hat seit gut 10 jahren eine eigene “sexy books”-redakteurin, nämlich dian hanson; hier der etwas dürftige artikel über sie in der englischen → wikipedia.

legShowMagazine1998leg show war das erfolgsmagazin von dian hanson, benedikt taschen begeisterter leser.

ich habe vor fünf jahren hansons big book of legs (und später das big butt book – siehe ganz unten) im wdr besprochen – nicht weil mich die frauenbeine interessierten, vielmehr interessierte mich der werdegang einer frau, die einmal model war, dann als sexjournalisten für hardcore-pornos schrieb, ein fast schon bankrottes bein-fetisch-magazin (leg show) wieder hochbrachte und die jetzt mehrere erfolgsbücher bei einem weltweit renommierten verlag veröffentlicht.

damals erzählte sie mir viel über die szene der beinefetischisten. beine-zeitschriften florierten in den usa bis in die 1960er jahre, ja, der inbegriff des pornohefts war mitte des letzten jahrhunderts das mit den frauenbein-fotos. es gab fotografen, allen voran der pionier der fetisch-fotografie elmer batters, die (so steht es ausführlich im großen beinebuch von dian hanson) genau wussten, wie sie für welchen strumpftyp welches licht setzen mussten. die beine durften ja nicht speckig wirken, nur weil die lichtreflexionen an den falschen stellen waren; die models verbrannten sich manchmal wegen des erhitzten kunststoffs fast die haut. es erinnert an die food-fotografie mit ihren bizarren tricks und techniken.

das interview mit dian hanson war spannend, weil ich mich vorher nie mit dem thema beschäftigt hatte und dann solche dinge herauskamen (aus meiner Rezension damals):

Mitte der 70er Jahre verschwanden die Beinmagazine fast völlig vom Markt. Dafür gab es nur einen Grund: eine Liberalisierung der Gesetze, was man von einem nackten Körper abbilden darf. „In dem Moment, als es legal wurde, die weiblichen Genitalien zu zeigen“, sagt Dian Hanson, „vergaßen die Kunden die Beine. Alle waren auf einmal verrückt nach Schamhaar.“

→ hier das ganze manuskript

daraus spricht hansons zunehmende beschäftigung mit der geschichte der (nackt)fotografie. sie hat da ihre etwas eigenen theorien: die befreiung der frauenbeine in den 1920er jahren mit tänzen wie den can-can stellt für sie eine befreiung der frauen dar. das ist sicherlich nur eine seite der medaille. genauso wie sie bei ihrem neuen buch, das ich gestern und heute in wdr und deutschlandfunk besprach, ihre sehr eigene sicht auf den zweiten weltkrieg äußert. ihr neues buch heißt nämlich my buddy. world war II laid bare und zeigt hunderte, wenn nicht tausend spärlich uniformierte bis splitternackte soldaten in friedlichsten szenerien, meist badend, duschend, schlafend, zusammen vom kriegsschiff in den pazifik hechtend, mit büchern auf latrinen sitzend. der krieg ist nicht zu sehen.

WWII_naked_soldiers_183eins von hunderten fotos aus einem “idyllischen” 2. weltkrieg. © michael stokes collection/taschen

ich empfand dieses ausblenden der grausamkeiten (es gibt in der sammlung von michael stokes, einem uniform-fetisch-fotografen, der die meisten fotos für diesen band gesammelt hat, durchaus brutale aufnahmen nackter leichen; die hat hanson aber nicht in den bildband aufgenommen) legitim und typisch taschen, aber sefa suvak, meine redakteurin in wdr 5 scala, war entsetzt über diese verdrängung: sonnige penisbilder in einem für vermutlich alle abgebildeten penisträger traumatisierenden krieg! michael stokes und dian hansons argumentieren, diese harmlosen, 70 jahre alten nacktfotos stammten aus einer zeit, als homophobie im militär noch nicht in der luft lag wie heute, die soldaten also unverklemmte a-sexuelle kumpelhaften beziehungen pflegen konnten. außerdem, so hanson, gab es solche massenhaften nacktfotos im zivilleben nie. der zweite weltkrieg war also nur ein fast zufälliger rahmen für diese einige hundert fotos.

hier ist mein beitrag, der gestern im wdr und heute in halb so langer fassung im deutschlandfunk (corso, kultur nach 3) lief:

 
rezension von “my buddy. ww II laid bare” im wdr

hier ist mein vier jahre älterer beitrag, der im juni 2010 in wdr/mosaik lief:


rezension von “The Big Butt Book” im wdr 2010