putzige kinderarbeit | ägyptisches kolonialidyll 1906

kosmos 1906 -mein stiefelputzer“das ist mein stiefelputzer”. aus: kosmos 1/1906, s. 25

in kosmos “wandern und reisen, handweiser für naturfreunde” von 1906 las ich einen artikel über das schöne leben in ägypten. der autor, dr. m. wilh. meyer, preist das stressfreie leben in kairo und auf dem land. er geht so weit, den gestressten zentraleuropäern mit ihren “nervenanfällen” nahezulegen, hier auszuspannen.

soweit würde das ins hier und heute passen, urlaub in marsa alam usw.

bemerkenswert ist aber, wie der autor den artikel schreibt, welche sicht er einnimmt, welche worte er wählt, wenn er zum beispiel über die einheimischen kinder spricht: bengel, bürschchen, kerlchen. er verklärt die kinderarbeit (“es sind kleine, flinke kerlchen von sechs bis acht jahren”, die ihm die stiefel putzen) als freizeitspaß: “zum leben brauchen sie [das geld] nicht. verhungern kann hier überhaupt kein mensch. sie können sich den ganzen tag unter eine schöne palme legen. […] ein paar datteln fallen ihnen von selbst fast in den mund.” warum sie dann schuhe putzen? um sich später, ab 14 jahren, den “höchsten genuß” zu leisten, nämlich eine frau oder einen harem. meyer verklärt dies so, dass er an der liebe in deutschland kein gutes haar lässt:

“sind diese verhältnisse nicht tausendmal gesünder als die unsrigen, wo unsere jungen männer das, was man heute noch die liebe nennen wagt, in der ekelhaftesten weise auf der straße kennen lernen und in die ehe wie in eine altersversorgungsanstalt gehen?”

die sicht auf ägypten ist, so freundlich sie ist, die von oben herab. bei der beschreibung eines handgreiflichen streits zweier araber wirkt es putzig auf ihn, wie der polizist sie ohne ein wort zu sagen, voneinander trennt. wie ein slapstick. die meisten dinge, die man ihm “anzudrehen” versucht, sind nutzlos für ihn, und entsprechend wertet er sie auch. eine brillenschlange, die nicht zubeißen kann, auf dem spieß gebratene spatzen usw. auch über den tierschutz macht sich meyer gedanken. in neapel, schreibt er, sie die “gräßlichste tierschinderei an der tagesordnung”, während die ägyptische regierung sich um hunde “in besonders liebevoller weise bekümmert”, indem sie ab und an fleischstücke auslegt, “mit strychnin gewürzt. nachher werden die hunde aufgelesen und zum – heizen von maschinen in den abwässerungsanlagen benützt.”

ja, wer ist nun dieser dr. m. wilh. meyer, der sich in klammern “urania-meyer” nennt? vor allem war meyer (1853–1910) ein astronom, kein unbedeutender. urania-meyer war seine firma. und → das ist der wikipedia-artikel über max wilhelm meyer (nicht von mir; von mir ist nur das textbeispiel).

sorry | so geht wikipedia nicht

Hand_29sharing als generationenkonflikt? grafik: nevit, wiki commons 2007

nach dem schreiben des wikipedia-artikels über die deutsch/britische kunstgaleristin → Erica Brausen ging ich auf die suche nach einem foto von frau brausen und stieß unter anderem auf die webseite einer kuratorin in london. ich schrieb sie an, begann meine mail damit, von kunst verstehe ich wenig, aber von geschichte einiges, und fragte, ob sie den besitzer der fotos von erica brausen auf ihrer webseite mal fragen könnte, ob er eins in die wiki commons, also den medienpool der wikipedia einpflegen könne; die artikel über erica brausen in der englischen, französischen und jetzt auch deutschen wikipedia hätten dann ein bild – was bei einem biografischen artikel stets wünschenswert ist.

die antwort der kunstexpertin war unerwartet harsch. sie schrieb zunächst, dass sie mails, die mit einem satz “von kunst verstehe ich wenig” beginnen, löscht. ich könne als von glück reden, dass sie’s nicht tat. dann schrieb sie, der besitzer der fotos sei erzürnt über die falschen fakten in den drei wikipedia-artikeln. sie, die kuratorin, teile diese kritik, und solange sich daran nichts ändere, sei an ein foto für die wikipedia gar nicht zu denken.

ich musste schlucken und mich sortieren und schrieb ihr sachlich zweierlei zurück:

  • wenn an den artikeln fakten falsch sind, soll sie sie bitte ändern, die wikipedia sei ein kollaboratives projekt, und zeigte ihr den weg, wie das geht. [darauf antwortete sie, dafür hätte sie keine zeit.]
  • zweitens sagte ich ihr, wenn ich frage, ob jemand ein foto in die wikipedia einspeisen möchte, ist das kein privates bittstellertum, sondern ich will damit die überlegung anstoßen, etwas zu teilen, nämlich ein foto, das in privatbesitz ist, allen (und natürlich kostenlos) zugänglich zu machen.

dieses denken des sharings ist dieser generation anscheinend so fremd, dass sie denkt, wenn einer etwas anfragt, will er es geschenkt für sich einsacken. sorry, gill, so geht wikipedia nicht.