mobile | nachsitzen

jour fixe für feste und freie mitarbeiter des WDR

der WDR steckt, wie viele sender, in einer tiefen umstrukturierung. früher gab es (nicht nur im WDR, ich kenne das auch aus dem SWR, BR und anderen öffentlich-rechtlichen anstalten) in kleinen häppchen so genannte programmstrukturreformen, durch die im wesentlichen das programm musikreicher und wortärmer wurde. gegen diese reformen gab es mehr oder weniger starke proteste von festen und freien mitarbeitern, unter anderem weil der schwund an wort zu einem schwund an inhalt und beschäftigung führte. wenn bestimmte sendungen vor einigen jahren 6, heute aber nur noch 2 beiträge senden, ist das das ergebnis mehrerer strukturreformen, die manche freie kollegen an den rand der privatinsolvenz führten.

jetzt führt die leitung des WDR den/das so genannte newsroom ein, quasi als symbol für eine zentrale umstrukturierung, und stellt ganz oben den claim hin: „mobile first“. dies war das zentrale thema des heutigen jour fixe, zu dem die hörfunkdirektion des WDR feste und freie mitarbeiter in den kleinen sendesaal am wallraffplatz einlud.

im eigentlichen scheint es bei diesem zukünftigen newsroom darum zu gehen, prozesse innerhalb der redaktionen zu bündeln; diktion heute: „um doppelte arbeit zu vermeiden“. für die redaktionen heißt das: weniger eigenkompetenz. bestimmte kernentscheidungen, die dann für alle sendungen und wellen verbindlich sind, werden ab 2018 aus diesem newsroom kommen, also nicht mehr aus den redaktionen, erst recht nicht von den autoren, die auf bestimmte themen stoßen und sie anbieten wollen. einige redakteure fragten auf dem jour fixe in eigener sache an, ob sie denn im newsroom vorkämen? WDR-hörfunkdirektorin → valerie weber antwortete, die bisherigen organisationsstukturen (aktuelle kultur, zeitfunk/politik, sport etc.) dürften sich nicht 1:1 im newsroom wiederspiegeln, also habe sie, weber, gedanklich einen „joker“ eingeführt, einen platzhalter für redaktionen, an die man vielleicht gar nicht gedacht hatte, die aber plötzlich newsroom-relevant werden könnten. etwa die verkehrsredaktion, die unter umständen näher an manchem aktuellen geschehen in NRW sei als andere.

warum sich die organisationsstrukturen nicht 1:1 in diesem neuen modell abbilden sollen, hängt nicht nur mit einem sehr alten, vielleicht veralteten system zusammen, sondern, so kam es mir bei der veranstaltung vor, weil der sender gegen zwei windmühlen kämpft:

  • den verlust junger hörer (von zuschauern des 3. programms ganz zu schweigen) und
  • angriffe durch die für die rundfunkstaatsverträge verantwortlichen ministerpräsidenten.

weber begann ihre einleitende rede mit der rhetorischen frage, was wäre, wenn man dem WDR seine unterhaltungwellen wegnähme, wie es von der politik jüngst gefordert wurde? die unterhaltungwellen, nämlich 1live, WDR 2 und WDR 4, seien schließlich die reichweitenstärksten wellen in NRW. mit 70% musik.

um die jungen hörer zu gewinnen, setzt der WDR auf seine an den newsroom angedockte „steuerungsgruppe digitaler wandel“. es sollen dort, so war auf dem jour fixe zu hören, „neue digitale produkte“ entstehen. eines ist schon entstanden, nämlich eine whatsApp-gruppe (offenbar war das mit mobile first gemeint). 1live habe den 1live bot eingeführt – aber woher, so die hörfunkdirektorin, die redakteure nehmen, die den bot redaktionell betreuen? audible mache angeblich erfolgreiche podcasts „mit leuten, die wir aufgebaut haben“. warum, so weber, kam der WDR nicht selbst auf diese idee? das newsroom soll es nun schaffen, pro-aktiv zu werden und nicht nur zu re-agieren. von kurzen wegen zwischen den „leuchttürmen“ des WDR war mehrfach zu hören. das war auch wörtlich gemeint, räumlich.

mobile first ist ein medienpolitisch verständlicher claim. radio first wäre, da junge leute kaum mehr radio hören, veraltet, würde sich aber auf den kern-ausspielweg des hörfunks beziehen. wir zahlen die rundfunkgebühren ja auch für eine komplette netzabdeckung mit UKW und DAB+. richtig modern wäre content first. oder wegen weniger trump, und wie es eigentlich schon immer hieß: content is king.

ich musste nach einer stunde gehen. die an sich für einen dialog gedachte veranstaltung (weber: „Ihr freien mitarbeiter, sagt was, das ist Eure veranstaltung!“) war bis dahin jedenfalls eine, in der die freien nicht vorkamen. was auch hätten sie zu einem newsroom zu sagen…

das klexikon und | der po

oder: warum die erste freie Enzyklopädie für Kinder so unfrei ist

von Maximilian Schönherr (c)

 Mai 2015

 

po-versteckt

am ende dann von administrativer hand gut versteckt, der po

Es gibt eine Enzyklopädie, die ein Vorzeigeprojekt des Internet ist, weil sie nichts kostet, von allen geschrieben wird und trotzdem ziemlich vernünftig dasteht: die Wikipedia.

Ende jedes Jahres fordert der Verein, der dahinter steckt, die Wikimedia, Spendengelder ein. Von den Millionen finanziert die Wikimedia dann die Anwälte bei Rechtsstreits über bestimmte Artikel, die Programmierer, die Rechenzentren für die Daten – und ab und zu neue Projekte – wie eine Enzyklopädie für Kinder um die 10 Jahre.

Dieses Projekt heißt Klexikon und ist gerade im Entstehen. Das Klexikon wird offiziell, sobald es, spätestens Ende dieses Jahres, 1000 Artikel umfasst.

Nach anfänglich hervorragender Stimmung zwischen den beiden Initiatoren und einer Handvoll von Erstautoren kam es zum Eklat.

Einer der – selbstverständlich unbezahlt schreibenden – Autoren war an einer Schule vorbeikommen, hatte die Kinder laut sich gegenseitig die Worte „Arsch“ und „Arschloch“ zurufen gehört und bei sich gedacht: Jetzt ist ein Klexikon-Artikel fällig, der dem Arsch Wiedergutmachung leistet. Und er schrieb ihn.

Der Kinder-Artikel über den Po erzählte völlig unanzüglich vom großen Muskel, der uns das lange Sitzen und den aufrechten Gang ermöglicht, und von der kleinen ringförmigen Öffnung in der Mitte, die der bequemen Ausscheidung zuvor elegant verwerteter Nahrung dient. Der Artikel über den Po gereichte dem Arsch zur Ehre. Er war kindgerecht, rund und gut, meinten andere.

Aber einem der Initiatoren des Kinderlexikons gefiel der Po gar nicht. Er warf dem Autor vor, ein Thema behandelt zu haben, das nicht auf der Wunschliste stand. Auf der Wunschliste stehen Dinge wie Dreißigjähriger Krieg und Füllfederhalter. Der Po-Autor war schon vorher unangenehm aufgefallen, weil er ungeplant Artikel über Dinge ins Klexikon gebracht hatte, die Kindern näher stehen als der Füllfederhalter oder der Flaschenzug: übers Mobbing zum Beispiel, über den Begriff Online und die App.

Der Mit-Initiator pochte auf die Regel: Nur die Wunschliste ist abzuarbeiten! Es könnte ja sonst jeder daherkommen und tun was er will. In der Wikipedia kann jeder daherkommen und über alles schreiben, so (und nur so) funktionierte die Wikipedia von Anfang an. Das Klexikon aber nicht. Der Po-/Online-/App-Autor pochte darauf, Themen selbst zu setzen, denn ein Freiwilligenprojekt könne doch nicht funktionieren, indem man Autoren zu Themen zwinge, wie Redakteure eines Verlags das gern tun.

Diese Hartnäckigkeit gefiel dem Po-Gegner, der das Klexikon mit gegründet hat, gar nicht. Er löschte strafend ein Bewegtbild aus dem Artikel, das den Po-Muskel Gluteus Maximus beim Gehen zeigte (natürlich von hinten, geschlechtsneutral). Begründung für die Löschung: könnte bei den Kindern Lustgefühle entwickeln. Stattdessen kamen nun plötzlich Ausdrücke in den Artikel, die so rustikal sind, dass kein Kind sie kennt und kennen wird, wie „auf 10 Buchstaben sitzen“ und „Podex“, selbstverständlich samt etymologisch korrekter lateinischer Herleitung.

Der Po-Autor stellte, leicht angesäuert, in der Diskussion die Grundsatzfrage, ob man im Kinderlexikon vielleicht erst mal „prüde“ und „Lust“ besprechen müsse, bevor der überaus kräftige, elegante Gluteus Maximus von einem, dem der Po per se nicht passt, entfernt würde. Und er fragte ketzerisch, ob die Kinderenzyklopädie für Kinder oder vielleicht doch eher für Lehrer gedacht sei? Das fasste der Po-Kritiker als persönliche Beleidigung auf. Und schwieg fürderhin.

Bei der nächsten Konferenz der beiden Initiatoren des Klexikons aber schwieg er nicht mehr, sondern brachte diesen Fall vor. Und dann wurde entschieden, dass derlei Aufmüpfigkeit nicht willkommen ist. Ohne weitere Rückfragen sperrte man den Po-Autor aus. Konto stillgelegt. Von oben nach unten durchgegriffen, wie bei einem Verlag. Das Gegenteil dessen, wodurch die Wikipedia groß und stark wurde.

Ach so, der Autor von App, Online, Lineal, Fingernagel, Herz, Tür, Mikrofon, Mobbing und Po – war ich. Schade, ich hätte Euch gern weiter geholfen. Aber nicht mit Füllfederhalter, sondern vielleicht mit Skateboard, Death Metal, voll fett, cool und geil.


revision nach kurzer rücksprache, ob die beiden initiatoren sich einen monat später vielleicht an die eigene nase fassen: tun sie nicht. frühere postings über die damals noch aktuelle entwicklung im klexikon finden sich hier und hier und hier.