© Maximilian Schönherr, Januar 2014

Radio

Am 10. Februar 2011 besuchte ich erstmals die Stasi-Unterlagenbehörde BStU. Mein Kollege und Freund im SWR Stuttgart, der Dokumentar Georg Polster, hatte mir den Tipp gegeben, dass dort zahllose DDR-Tonbänder liegen und erschlossen werden - hervorragendes Material fürs SWR2 Archivradio [siehe Wikipedia], diesen zusammen mit Detlef Clas (SWR) entwickelten Internetradiosender, in dem ausschließlich ungeschnittene Originaltöne aus deutschen Rundfunkarchiven laufen.

Elke Steinbach und Katri Jurichs (rechts), die zentralen Personen im BStU-Audioarchiv für meine Recherchen. Mit ihnen habe ich viele spannende Stunden zwischen Bändern und vor Lautsprechern verbracht.

Elli Barczatis

 

Mit Elke Steinbach und Katri Jurichs (oben im Bild) traf ich auf zwei Expertinnen in der Erschließung von DDR-Audiomaterial. Sie hatten nicht nur den Bestand von ca. 20.000 Tonbändern im Hinterkopf, sondern auch einen Sinn für Zusammenhänge und das Wesentliche.

Bei diesem ersten Besuch ging es mir um einen Querschnitt der Mitschnittaktivitäten der Staatssicherheit (Stasi) der DDR. Wir fanden unter anderem Mitschnitte des Polizeifunks von Leipziger Montagsdemonstrationen 1989 und Sounds beim Installieren von Abhörwanzen. Und: Die beiden Frauen wiesen mich auf den Fall der Elli Barczatis hin (Bild links).

Elli Barczatis, Passfoto von ca. 1950. Barczatis wurde 1955 nach einem politischen Prozess hingerichtet. Eine ausführliche Biografie über die Frau und ihren Geliebten (Bild unten) für die Wikipedia geschrieben.
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Elli Barczatis war Chefsekretärin des DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl. Sie verliebte sich in dieser nach dem 2. Weltkrieg nicht besonders männerreichen Zeit in einen verheirateten Mann, Karl Laurenz (Bild rechts).

Laurenz kam aus Böhmen, war Jurist, kurze Zeit Rundfunkjournalist, vor allem Übersetzer. Er stand der DDR zunächst wohlwollend gegenüber, geriet aber zunehmend in Konflikte mit der Partei (SED), wurde aus dieser ausgeschossen und bekam danach keinen Fuß mehr auf den Boden. Er wurde quasi aus Verzweiflung zum Agenten für den Vorläufer des Bundesnachrichtendienstes, der "Organisation Gehlen" des ehemaligen Nazi-Generals Gehlen.

 Karl Laurenz
Karl Laurenz, Passfoto von ca. 1950. Laurenz wurde 1955 nach einem politischen Prozess hingerichtet.

Beobachtungsprotokoll der Stasi

Stasi-Beobachtungsprotokoll 1951, Aktensignatur: BStU MfS 57/56 Band 1, S. 89f.

 

 

Das höchste Gericht der DDR zog den Prozess gegen die beiden an einem einzigen Verhandlungstag durch. Dieser Tag, der 23. September 1955, wurde zu einem vielschichtigen Drama und endete mit dem Plädoyer des Staatsanwalts für die Todesstrafe.

Die Stasi schnitt den Prozess in großen Teilen mit. Die Tonqualität ist hervorragend.

Ich destillierte aus den knapp 10 Stunden Prozess-O-Ton-Material 2011 ein Feature für den WDR. Redakteur war Thomas Nachtigall, produziert hat das knapp eine Stunde lange Stück Nikolai von Koslowski.

Anfang 2013 wurde "Fallbeil für Gänseblümchen" mit dem Basler Featurepreis ausgezeichnet. Bei einem Basler Verlag entstand zeitgleich mit der Preisverleitung das Hörbuch. (Bild unten links) Im März 2014 wird das Hörbuch mit dem Deutschen Hörbuchpreis ausgezeichnet.

Beim Deutschlandradio gibt es nachhörbar ein Hintergrundgespräch zu meiner Recherche zu dem Thema und zur Besonderheit dieses Strafprozesses.

Fallbeil für Gänseblümchen - CD

Die Dokumentation (und das Hörbuch) bekam fast ausschließlich positive Kritiken und wurde von einigen ARD-Sendern sowie dem ORF übernommen. Einigen kann ich mich nicht anschließen, weil sie den Prozess mit den Freisler-Prozessen des Volksgerichtshof der Nazis gleichsetzten. Kritische Stimmen aus meinem privaten Umfeld vermissten die Einordnung des Prozesses in das Zeitgeschehen. Richtig, ich habe darauf verzichtet, in dem Feature ausführlich über die DDR zu sprechen, und zwar aus gutem Grund: Hier sprechen Leid, Nachkriegstraumata, große Politik, hehre sozialistische Ideen, korrupter Kapitalismus, Kleingeist, Angst und Liebe unmittelbar aus dem Original-Ton heraus. Es taucht deswegen in der Produkion nur ab und an ganz kurz ein Sprecher auf, der das Prozessgeschehen direkt und schnell einordnet. Ich habe hunderte Seiten Prozess- und Ermittlungsakten gelesen, die hier auf ein Minimum kondensiert einfließen. Im Grunde aber lebt das Feature zu 90% vom Prozess-Mitschnitt der Stasi.

Warum's die Stasi mitgeschnitten hat? Es war keine verdeckte Aufnahme, kein geheimer Mitschnitt, soviel ist sicher. Vielleicht hat Erich Mielkes Ministerium den Fall zu Schulungszwecken aufbewahren wollen? Vielleicht, weil man sich für historisch großartig hielt? Die Stasi hat viel mitgeschnitten, zahlreiche Strafprozesse der 1950er Jahre, aber eben auch ganz anderes wie zum Beispiel Tagungen von DDR-Juristen. Vielleicht waren die MfS-Mitarbeiter einfach die Experten für den Tonmitschnitt in guter Qualität.

Das Hörbuch mit Prozess-Originalton. Der Titel kommt vom Decknamen, den Elli Barczatis beim westlichen Geheimdienst hatte, "Gänseblümchen". Sie selber wusste nichts davon..
 
 
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