WDR liegt | völlig falsch

jörg schieb vor dem kölner wikipedia-lokal

die WDR-fernsehnachrichtensendung aktuelle stunde gucke ich nur selten, diesmal aber schon, weil es in der wikipedia eine → diskussion über einen beitrag des autors jörg schieb gibt. jörg schieb kenne ich nicht, und es liegt mir fern, kollegen zu bashen. schiebs fernsehbeitrag findet sich → hier.

das gut 4 minuten lange stück ist so erstaunlich misslungen, dass ich mir die mühe gemacht habe, es im detail anzusehen. es gibt darin praktisch keine einzige wahrheit, außer in den aus dem zusammenhang gerissenen kurz-statments eines wikipedia-autors. links die paraphrasierten statements vom kollegen jörg schieb, rechts mein kommentar:

Über 5000 Artikel sind als veraltet markiert, “müssen also dringend überarbeitet werden.”nein, sie müssen gar nichts. bei einem projekt von freiwilligen gibt niemand die themen vor, und keiner “muss” etwas überarbeiten.
“Immer weniger Leute haben Lust, bei Wikipedia mitzumachen.”falsch. dazu gibt es keine zahlen. falls es im kern stimmt, ist es ein schon jahre altes thema.
“Nur rund 9% aller Wikipedianer sind Frauen.”falsch, auch wenn die zahl oft und schon lange genannt wird. allein wegen der überzahl an pseudonym arbeitetenden autorInnen, weiß keiner, wer bi, trans oder ein gruppentäter ist.
“Es gibt eine strenge Hierarchie.”falsch. gäbe es die, gäbe es wikipedia nicht. es gibt keine redaktion, keinen, der über einem autor throhnt.
“Nur 188 Admins in Deutschland für 2 Mio Artikel.” warum “nur”? und warum für die menge an artikeln? admins werden gewählt, bekommen keinen cent bezahlt und kümmern sich um sehr verschiedene themenbereiche, viele z. b. nur um artikel über chemie, andere nur um rechte von bildern.
“Nur 188 Admins in Deutschland für 2 Mio Artikel; von Neutralität kann da längst keine Rede mehr sein.”völlig daneben. wie soll die zahl der administratorInnen für neutralität von inhalten sorgen? das heer der autorInnen mit seinem dauernden nach-editieren sorgt für erstaunliche, aber natürlich nicht durchgehende neutralität der informationen. raimond spekking antwortete dazu richtig: “Wir belegen alles mit Quellen.”
“Ja, aber es wird gestritten.”wieso ja, aber? natürlich wehrt sich jemand, wenn seine quelle als nicht so gut wie eine andere angesehen wird. so funktionieren alle kollaborativen projekte.
“Texte werden ständig in die eine, mal in die andere Richtung korrigiert. Edit-Wars wird das genannt.”a) ja, zum glück werden die texte korrigiert. b) denkfehler: ein edit-war ist ein ganz spezieller fall von hickhack und passiert im ganzen gesehen sehr selten.
“Also wenig Wertschätzung, viel Häme?”falsch. manche vergreifen sich im ton, aber gefühlt 99% aller edits, und wenn’s nur ein komma ist, werden wertgeschätzt. oft mit dem “danke”-knopf. raimond sagt richtig, dass es bei manchen themen mehr streit gibt als bei anderen. ganz normal.
“Es waren vor einigen Jahren noch 1200 Mitarbeiter, jetzt sind es nur noch 900.”falsch: wenn ich “vor einigen jahren” mit 10 jahren ansetze, waren es viel weniger mitarbeiter als heute. und auch falsch: beide zahlen. je nachdem, wie man die edits quantifiziert, kommen auch gern mal zahlen um 9000 heraus, tendenziell stabiles niveau seit jahren, aber vermutlich weniger als vor 5 jahren.
“Knapp 15% der Biografien sind über Frauen.” ja und? wikipedia erfindet die welt nicht, sondern versucht, sie abzubilden. wie viele bekannte malerinnen und maler gab es im 18. jh.? nachdenktipp: hat das vielleicht gründe?
“Haben Women in Red gegründet.”vor 4 jahren war das! heißt die sendung “aktuelle stunde”?
“Erst kürzlich wurde eine Liste mit SF-Autorinnen gelöscht.”doppelt falsch. die liste ist ein halbes jahr alt, wurde damals aus bestimmten gründen gelöscht, aber seit längerem steht sie da und wächst. siehe → hier.
“Es braucht dringend neue Regeln und Strukturen.”falsch. es gibt sogar viele autorInnen, die finden, dass das regelwerk zu groß geworden ist (beispiel: relevantkriterien). und neue strukturen, warum?

unterm strich: wikipedia und die inneren strukturen sind komplex. wer darüber etwas in der BILD-zeitung sagen will, den muss das nicht jucken, der/die braucht nicht zuzuöhren, der/die kann inhalte krass verzerren und schlagzeilen aus der luft holen. bei öffentlich-rechtlichen sendern aber sollte a) korrekt recherchiert werden und b) der interviewpartner nicht so aus dem zusammenhang gerissen werden, wie hier offenbar geschehen.

ich kenne mich mit den interna der wikipedia hinlänglich aus, bin da seit 12 jahren autor und mit den modalitäten des lokal k in ehrenfeld vertraut. es gab vor einigen monaten eine ausgabe des neo magazins mit jan böhmermann, in dem er ausführlich auf die wikipedia einging, einige für uns wikipedianerInnen ganz normale vorgänge als super-erstaunlich hinstellte, im prinzip aber korrekt berichtete. beim aktuellen WDR-beitrag war leider alles falsch.

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