publikumsbeschimpfung | sprechstück 1966

ab dem 8. juni 1966 führte claus peymann in frankfurts theater am turm ein bemerkenswertes theaterstück auf – eigentlich kein theaterstück, ein sprechstück, denn es wird nicht gespielt, sondern nur gesprochen: publikumsbeschimpfung von peter handke. das stück ist in voller länge, in einer aufzeichnung des hessischen rundfunks zusammen mit dem norddeutschen rundfunk, bei youtube zu sehen. es spricht für die zeit (in der ich selbst zu jung war) bände.

publikumsbeschimpfung-1966publikumsbeschimpfung, die aufzeichnung am tag nach der premiere in frankfurt 1966 (foto: aus dem mitschnitt)

zu beginn sehen wir das publikum platz nehmen. trotz des provozierenden titels kein ausschließlich studentisch-junges publikum. dann kommt ein mann auf die bühne und versucht sich vergeblich im regeln der rechtlichen angelegenheiten für die fernsehaufzeichnung: das publikum zischt und mault. dann beginnt das stück, über eine stunde sprechen die vier schauspieler (michael gruner, ulrich hass, claus-dieter reents, rüdiger vogel) zu sich und ins publikum hinein. nach etwa 1 stunde fangen sie an, zu beschimpfen, zuletzt im rhythmus der damals gerade aufgekommenen beat-musik. sie nennen das publikum all das, was in den zeitgeist und in die aufarbeitung des nationalsozialismus, die damals gerade erst begann, passt: “ihr jüdischen großkapitalisten, ihr roten horden, ihr genickschussspezialisten, ihr untermenschen, ihr rotzlecker – ihr wart die entdeckung des abends.”

das stück endet mit einer homogenen mischung aus buh-rufen und applaus. nur wenige zuschauer haben den saal während der aufführung verlassen. viele gesichter sind ratlos.

ich war selbst auf klassenfahrt 1972 in berlin, und einige von uns gingen dort in die publikumsbeschimpfung. vier jahre nach der uraufführung war da kaum mehr spannung drin; jedenfalls wusste ich damals um handke und brecht und um die bedeutung abstrakten sprechtheaters, aber es sprang kein funke über. ich weiß noch, ich spürte damals, dass ich paar jahre zu spät war. umso spannender fand ich jetzt diesen komplettmitschnitt. der ist auch schwer auszuhalten, in seiner länge, aber aus anderen gründen als 1970 in berlin. handke, der verinnerlicher, war damals noch anders drauf, und, das muss man schon sagen: das stück ist für damals meisterhaft.

in dem standbild oben sieht man, wenn man will, die rockgruppe kraftwerk anklingen: – auch vier junge, ernste männer, die sich in viererreihe vors publikum stellten und minimalistisches vortrugen.

Maike-Jüttendonk,-Ulrich-Hassmaike jüttendonk und ulrich hass 2013 (foto: maximilian schönherr)

PS. ich telefonierte, nachdem ich das schrieb, mit ulrich hass (bild oben; bei einer aufnahme, die ich mit ihm und maike jüttendonk im sommer 2013 für ein minihörspiel machte; in dem film ist er der typ, der zum beispiel bei minute 28 eine künstliche lachorgie ablässt) und fragte ihn nach dieser vorstellung, die ich für die premiere hielt. es war der tag nach der premiere. die premiere selbst endete so euphorisch, dass die crew anschließend feiern ging. ein restaurant in frankfurt wurden sie als revoluzzer nicht eingelassen, später ertrank vieles im alkohol. die vier schauspieler wurden von der polizei in u-haft genommen, die vorwürfe, so ulrich hass, waren ihnen nicht bekannt. auch peter handke war mit in haft, kam aber in den morgenstunden schon wieder frei. während die anderen den tag in der zelle durchschliefen und dann entsprechend geläutert den auftritt absolvierten, der in der fernsehaufzeichnung zu sehen ist. schließlich fragte ich ulrich hass, wer der typ mit der sonnenbrille war, der am schluss so brüderlich aus dem publikum auf die bühne kam: peter handke.