was der spitzel | sieht

zum DDR-spionagefall barczatis/laurenz 1955 (→ hier und → hier und → hier) gibt es reichlich unterlagen. einige davon habe ich schon vor jahren in die entsprechenden wikipedia-artikel eingefügt. weil wir im → archivradio gerade den stream des kompletten prozessmitschnitts (viele stunden) vorbereiten, ging ich die akten nochmal durch. hier ist eine von hunderten von seiten:

barczatis_laurenz_erste_ausspitzelungBStU-dokument einer bespitzelung im januar 1951. oben handschriftlich “gute genossin”

das obige dokument vom 9. januar 1951 ist die schreibmaschinen-abschrift eines vermutlich handschriftlichen erlebnisberichts. eine normale angestellte in der abteilung “kohle” (dem späteren DDR-industrieministerium) beschreibt, wie sie in der HO-gaststätte leipzigerstraße ecke friedrichstraße* ihren früheren kollegen karl laurenz “hinter einem pfeiler allein an einem kleinen tisch” sitzen sah. hier setzte bereits das misstrauen der als “gute genossin” bekannten frau ein: denn laurenz galt als frauenheld, hatte einmal (das war aktenkundig) beim versuch, eine kollegin zu küssen, eine ohrfeige kassiert, war mit einer anderen kollegin, fräulein rettschlag, liiert, und jetzt saß der lümmel alleine da. sehr verdächtig.

“G.”, wie sie in späteren protokollen genannt wird, fragt sich, wo die rettschlag ist, sieht stattdessen aber das “fräulein barczatis” vor sich am tisch sitzen, die damals bereits sekretärin des DDR-ministerpräsidenten otto grotewohl war.

das alleine wäre G. schon berichtenswert genug gewesen, aber jetzt passierte noch folgendes: laurenz zahlt und geht! und sieht sich dabei nach fräulein barczatis um! “frl. b. nahm nun aus einer von mir vorher nicht festgestellten tasche ein aktenbündel, legte dieses in eine größere tasche und verließ ohne zu bezahlen den raum. nach kurzer zeit kehrte frl. b. wieder zurück und legte eine kleinere tasche in die größere und unterhielt sich mit der am gleichen tisch sitzenden dame.”

laurenz war damals noch lange nicht als spion für den westen angeworben. G. wird nach ihrer meldung aktiv als spitzel eingesetzt, die beiden verdeckt auszuspähen. sie findet aber nichts handfestes. diese unbedeutende meldung jedenfalls war der anfang des falls barczatis/laurenz, der mit todesurteilen und hinrichtungen endete.


*zu den HO-gaststätten fand ich → diesen link. die genannte gaststätte befand sich demnach im ergeschoss des weitgehend von bomben zerstörten fürstenhofs. heute ist da nichs dergleichen mehr zu sehen.

schweigespirale | elisabeth noelle-neumann

schweigespiraleschweigespirale und schere im kopf. grafik: m.s.

elisabeth noelle-neumann war die große frau der umfragen – und eine theoretikerin. auf sie geht der begriff der → schweigespirale zurück. in die schweigespirale gerieten die wähler des bundestags 1972 angeblich dadurch, dass die medienberichterstattung einen sieg der SPD propagierte. dadurch passierte folgendes: die wähler antworteten auf die frage, was sie wählen werden: etwa 50/50 SPD/CDU.CSU. auf die frage, wer die wahl gewinnen würde, verschwiegen viele ihre parteipräferenz und sagten immer häufiger, je näher der wahltag rückte, die SPD siegt. mit anderen worten: wer im biergarten antizipiert, dass seine meinung nicht willkommen ist, wird schweigen. [noelle-neumanns theorie ist umstritten, weil die statistik nicht ganz sauber war; aber die theorie gibt einem gefühl recht und hat sie deshalb lange überlebt.]

ich kam auf das thema durch eine → aktuelle statistik der amerikanischen demoskopie-firma pew research, die die offenheit untersuchte, mit der menschen ihre politischen ansicht zum edward snowden themenkomplex äußerten. die spezielle frage war die, ob sie es in sozialen netzen (facebook, twitter) wie im normalen zwischenmenschlichen bereich (zu hause, im café) tun? sie tun es nicht. 86 % der über 1000 befragten sagten aus, im freundeskreis würden sie über das überwachungsprogramm und snowden sprechen, aber nur 42 % täten es auch in sozialen netzen. das hat nur am rande mit der meinungsspirale zu tun und ist eher eine schere. jedenfalls, so schreibt pew research, hätten sich manche fans und betreiber sozialer netze erhofft, dass sich die menschen da sicherer fühlen als sie es tun. und natürlich hängt diese verschlossenheit wiederum mit dem thema der frage zusammen, eben der potenziellen überwachung, wie edward snowden sie aufgedeckt hat.