sau rauslassen | digitales logbuch, DLF

imagekonzertant kollektives rauslassen der sau. illustration: hans jörg brehm

das von vielen nichtwissenden als unwesen angesehene dauernde fotografieren von allem mit smartphones hat ein neues wesen in musikkonzerte gebracht. zu jeder zeit, aber ganz besonders bei musikalischen höhepunkten ist der an sich dunkle teil des saals wunderbar beleuchtet von kleinen bildschirmen, die alle dasselbe zeigen, mit leicht voneinander abweichendem weißabgleich.

ich habe das vor paar tagen mal hier bebildert und an-analysiert, und als spin-off ergab sich daraus ein kurzer text, eine glosse in der deutschlandfunkreihe “computer und kommunikation”. wir nennen die glosse da “das digitale logbuch”. hier nachhörbar.

geholfen bei der recherche, was eigentlich eine “sau” ist, hat isabella. und illustriert hat ungefragt mal wieder auf wunderbare weise hans.

mir fallen die augen zu | beim fahren

OLYMPUS DIGITAL CAMERAstraßenverkehrsschild in utah rät müden autofahrern, rechts rauszufahren. foto: phil konstantin, wiki commons, 2007

fallen mir beim autofahren die augen zu, fallen sie eben zu, und der wagen fährt dann, ja: wohin? dass der müde autofahrer für signifikant viele (20%) und besonders schwere unfälle bei langstreckenfahrten verantwortlich ist, ist lange bekannt. mit den müdigkeitsdetektoren in neuen mittel- und oberklassefahrzeugen bekommt das thema aber einen unangenehmen beigeschmack: “ich will nicht, dass mir jemand, und wenn es nur ein computer ist, dabei zusieht, wohin ich gucke oder wie ich lenke!”

stimmt, das irritiert, und in zeiten, wo autos sich mit dem internet verbinden und man eh nicht genau weiß, wo welche persönlichen daten hinwandern, irritiert es erst recht.

sozialpsychologisch gesehen geht dieses gefühl vom autofahrer aus und bleibt bei ihm (“ich werde müde, mir fallen die augen zu, ich bin am steuer.”) er sieht das lenkrad und das monitoring-display, aber nicht den verkehr “draußen”.

schon seit rund 100 jahren aber ist das betreiben eines autos nicht mehr eine private kurvenreiche superunterhaltung, sondern das kollektive bewältigen eines komplexen mobilitätssystems in echtzeit. ich finde, das funktioniert, wenn man sich die verkehrsdichte in deutschland ansieht, prima. man nimmt rücksicht, man fährt nicht gleich aus der haut, wenn ein anderer plötzlich die spur wechselt. da ist es sehr hilfreich, wenn ein einschlafender fahrer von seinem bordcomputer geweckt wird, bevor er vier entgegenkommende fahrer irritiert, verletzt, tötet. das klingt moralisch, ist es aber nicht.

in der wikipedia gibt es einen kurzen artikel dazu, der sich aufmerksamkeits-assistent nennt. im englischen artikel (“driver drowsiness detection”) ist sehr schön zu lesen, wie die verschiedenen hersteller diese technik “branden”:

  • ford: driver alert
  • daimler: attention assist
  • volkswagen: fatigue detection system
  • volvo: driver alert control
  • toyota: driver monitoring system

weitere bezeichnungen:

  • anti sleep pilot
  • vigo

 müdigkeitErkanntmüdigkeits-benachrichtung. illustration: volkswagen AG

die bundesanstalt für straßenwesen BAST hat 2013 das müdigkeitsverhalten am steuer → untersucht. demnach gibt es rund 70 müdigkeitsmessverfahren, die nicht nur unterschiedlich messen, sondern auch unterschiedlich warnen. es gehören

“die Erfassung der Fahrperformanz durch Beobachtung von Lenkverhalten, Spurhaltung und Lidschlussverhalten, sowie das videobasierte Expertenrating und das EEG zu den validesten Müdigkeitsmessverfahren.”

problematisch ist der “pupillografische Schläfrigkeitstest” wegen zu unsicheren ergebnissen; offenbar machen unsere augenlider auch in nicht schläfrigem zustand seltsame und in schläfrigem zustand normale bewegungen. es wird in der studie den herstellern solcher warnsysteme deshalb dazu geraten, mindestens zwei messverfahren parallel laufen zu lassen, also zum beispiel lenkverhalten und lidschlagfrequenz. aus polizeilicher sicht es gibt noch keine analysetools, um unmittelbar nach einem unfall zu testen, ob der fahrer am steuer eingeschlafen war. viele geben als grund für ihre unaufmerksamkeit an, sie seien “mit den gedanken woanders” gewesen. die meisten fahrer mit müdigkeitsdetektoren ignorieren die warnungen und fahren weiter. vermutlich ist die dunkelziffer für durch müdigkeit am steuer ausgelöste unfälle hoch.

hoch die tassen! |smartphones beim konzert

smartphones_im_publikum

das bild oben zeigt smartphones, mit eingeschaltetem kamera-modus, etwa 30 an der zahl. die originalaufnahme (unten) habe ich einem video entnommen, das aus der gefühlten 5. reihe heraus aufgenommen wurde, bei einem großkonzert mit lana del rey in berlin diese woche.

wenn wir aus der 5. reihe etwa 30 leuchtende smartphones sehen, wären es aus reihe 20 schon 120 bildschirme. fast alle smartphones sind weiß, dem aufbau nach mehrheitlich iPhones, gefolgt von samsung galaxys. der weißabgleich funktioniert bei fast allen kameras gut. nur ein iPhone (drittes von rechts, unten) zeigt mehr blau als lila.

gefühlt würde ich sagen: fast alle halten ihr smartphone hoch; weil aber die anderen, die es nicht tun, unauffällig sind, müsste man das vielleicht auf 70% herunterkorrigieren. etwa zwei drittel der foto/filmer halten das gerät hochkant. selbst wenn einige nur fotografieren und nicht filmen, kann man also davon ausgehen, dass viele filme im hochkantformat entstanden, also völlig untauglich für querformatige bildschirme.

etwas über die hälfte der “user” halten ihr gerät (mit einer art affengriff von oben) mit zwei händen. offenbar ist es zu riskant, das gerät fallen zu lassen.

smartphones_im_publikum_lanaDelReystandbild aus einem youtube-video eines lana del rey konzerts im juni 2014 in berlin

nehmen wir ein noch größeres konzert – backstreet boys, märz 2014, olympiahalle münchen – für eine kleine analyse:

smartphones_im_publikum_2

oben ein ausschnitt aus einem youtube-mitschnitt, mit einem smartphone aus den oberen rängen links gefilmt. im dunklen meer des publikums sind die auf die bühne gerichteten smartphones als helle punkte zu sehen, allein in diesem ausschnitt einige hundert. unten die vergrößerung eines details aus dem bild: sie allein zeigt schon 30 smartphones:

smartphones_im_publikum_2_detaildetail aus dem foto oben: allein in diesem ausschnitt leuchten 30 smartphones.

noch ein blick auf die armhaltung, die das handy in der luft erzeugt. die arme nehmen mit der schulter ein gleichschenkliges dreieck ein, die spitze ist das handy. um das deutlich zu machen, nahm ich aus dem obigen konzertvideo einen ausschnitt und betonte die kanten:

smartphone_dreieckausschnitt aus dem szenario. links normal, rechts mit betonten kanten.

mit dieser interpretation sieht das publikum nach einem meer aus gleichschenkligen dreiecken aus:

smartphone_dreieck_stilisiertdas filmen mit dem smartphone bewirkt massenweise gleichschenklige dreiecke.

nur die beiden fallen aus dem rahmen (sie befinden sich im obigen bild ziemlich weit rechts):

wasMachenDieBeiden

klicken oder sterben | die webseite von focus.de

heute wollte ich einem in der wikipedia angegebenen link zu einem artikel in der zeitschrift focus folgen, in dem es um die 68er-bewegung ging. auf meinem tablet-computer poppten unmittelbar, nachdem sich die seite öffnete, zwei fenster auf und legten sich quer über den text. weil rechts und links eh schon werbung platziert war, sah die webseite dann so aus:

focusWebseite_einWerbedebakelwebseite von focus.de beim aufruf eines artikels: 90% der fläche nimmt werbung ein.

von der ästhetik ganz abgesehen (hier konkurrieren unangenehm nahe beieinander liegende rottöne sowie uneinheitlich angeordnete und skalierte teilfenster), muss sich eine zeitschriftenredaktion die frage gefallen lassen, warum ihr der inhalt so unwichtig ist, dass nur das skelett davon übrig bleibt:

focusWebseite_wasVomInhaltBleibt

man bekommt die drüberliegenden fenster natürlich weg, aber beim unteren fenster, dem mit dem pfeil, muss man sich genau überlegen, wohin man klickt:

focusWebseite_klickenOderSterbenworauf sollte man am besten klicken, um dieses pop-up-fenster wieder loszuwerden?

werbung wegzuklicken bedeutet: man klickt. das bringt dem verlag “klicks”, und klicks sind die währung, mit der er der werbeindustrie belegt, wie begehrt seine seite ist.

bei dem oben abgebildeten fenster sehen wir drei farben. auf rotem untergrund steht weißer text mit wechselnder typografie, z. b. suggestiven großbuchstaben “KLICKEN SIE AUF”. die dritte farbe ist das facebook-blau. das fenster besitzt kein x oben rechts, um es zu schließen. die rote fläche ist hochgradig klicksensitiv, das heißt, wenn man nicht genau klickt, wird der link zu facebook bedient. die klickfläche dagegen, mit der man aus dem schlamassel wieder herauskommt, ist klein gehalten: man muss den äußerst unteren rand treffen: “Nein, ich möchte kein Facebook-Fan werden”. dabei war das gar keine frage, die sich stellte. die frage lautet: wollen Sie diesem fenster weiter folgen oder es schließen? stattdessen steht hier: wollen Sie auf facebook focus-freund werden oder wollen Sie gar kein facebook-fan werden?

das ist ungefähr so, als würde jemand mein haus verlassen wollen, aber statt ihm die tür zu öffnen, verwickle ich ihn in ein gespräch, was mit dem rausgehen gar nichts zu tun hat. geht’s noch plumper?

ästhetisch, werbetechnisch und verbraucherschutzmäßig ist so etwas ein debakel.

  • für brancheninterne heißt das: einem verlag, der seine texte so stark verunstaltet, um stupide klicks einzuheimsen, geht es nicht gut.
  • für den leser von magazinen im web bedeutet das: finger weg von focus – oder einen werbekiller als browser-plug-in installieren.
  • und für mich als wikipedia-autor heißt es: raus mit den links zum focus.

ein digitaler hund, holografisch | DLF

reparaturhund_von_HJ_brehmin unserer glossenrubrik, dem “digitalen logbuch” in der computersendung des deutschlandfunks, wollte ich diesmal das soeben vorgestellte amazon-smartphone “wahrnehmen”. es hat als herausragende technische eigenschaft ein holografisches display. um das zu schön markenneutral zu halten, nahm ich meine bayerisch gesprochene szenerie als basis (roboterfabrik, samstagsschicht mit einem etwas schlicht denkenden ich-erzähler und der alles wissenden mitarbeiterin angie) und führte einen hund ein, genauer genommen einen hunderoboter. hier ist das zweiminütige stück nachhörbar (bitte hören; der text ist das hochdeutsche transkript eines bayerischen kabinettstücks):

der wadlbeißer

 den hund oben hat mein freund hans-jörg brehm gezeichnet. er (der hans) firmiert unter epict.

 

car2go-problem | aus 10 € wurden 30 €

stressfreiMitcar2gostressfrei zum flughafen köln-bonn?

wie schon vor paar monaten → hier beschrieben, gibt es ein problem beim car sharing am flughafen köln. der wagen damals stammte von drivenow und wollte mich am offiziellen terminalparkplatz für drivenow-fahrzeuge nicht loslassen. ich konnte nicht aus-checken und musste den wagen unverriegelt einfach da stehen lassen. ich erfuhr damals, dass das kein einzelfall war, denn ein anderer fahrer, der seinen wagen zeitgleich dort abstellen wollte, musste mehrfach auf dem parkplatz herumrangieren, bevor er die miete offiziell beenden konnte. mir gelang es nicht.

ich habe am letzten donnerstag, auch frühmorgens, dasselbe mit dem konkurrenten car2go erlebt. car2go wirbt interessanterweise mit den worten: “stressfrei zum flughafen köln-bonn“. im einzelnen passierte mir bei meiner ersten fahrt mit einem car2go-smart zum flughafen folgendes:

  • optimal und korrekt zwischen drei anderen car2go-smarts geparkt meldete das display: kann den wagen nicht orten.
  • plötzlich springt die freisprechanlage an. eine nummer wird ohne mein zutun gewählt, ich höre die warteschleife.
  • ich überlege mir, umzuparken, merke aber, der wagen lässt sich nicht mehr starten. das display meldet, die wegfahrsperre sei aus sicherheitsgründen aktiviert worden.
  • nach rund 5 minuten bricht die telefon-warteschleife ab, die car2go-stimme meldet: die miete kann nun beendet werden.
  • ich verlasse den wagen, halte die kundenkarte wie üblich vorn an die windschutzscheibe. das display meldet, es gibt ein problem, ich soll die anweisungen im wageninneren beachten.
  • ich gehe in den wagen zurück. dort steht am display: bitte loggen Sie sich ein, um weiterzufahren. zwei widersprüchliche aussagen.
  • ich verlasse den wagen, gehe zum terminal, fliege davon.
  • suche am zielort in aller eile die telefonnummer des supports heraus, rufe an, melde den vorgang, bekomme mitgeteilt: das muss die fachabteilung beurteilen.

car2go_extremLangeParkzeitcar2go-rechnung für die fahrt, die eigentlich nur 10 € hätte kosten sollen.

die fahrt zum flughafen hatte eine gute viertelstunde gedauert, der vorgang des misslungenen mietendes kostete mich eine weitere viertelstunde. der anruf bei der hotline dauerte 10 minuten (samt warteschleife), die formulierung einer email an den kundensupport nochmal 10 minuten, ein nachhak-anruf von mir, weil ich zwei tage keine rückmeldung bekam, nochmal 10 minuten. damit war eine miete von 15 minuten mit einem zeitaufwand von einer stunde verbunden. nicht besonders aufbauend war die umgehend erstellte rechnung, bei der eine parkzeit von 156 minuten auftauchte. das war ungefähr die zeit zwischen verlassen des autos bis zu meinem anruf nach meinem flug nach berlin.

car2go entschuldigte sich bei mir schließlich für den vorfall und kündigte eine erstattung sowie eine gutschrift von 10 minuten an; es hätte “bei der Abmiete [dieses Wagens] eine technische Störung” vorgelegen. falsch: die sache hat system und ist nicht von diesem individuellen fahrzeug abhängig. eigentlich ein fall für den verbraucherschutz. und solange beide anbieter das nicht in den griff bekommen, verlieren die kunden natürlich die lust, damit zum flughafen zu fahren.

NB:

als ich das auf facebook gepostet hatte, gab es ein paar stimmen, die meinten, wenn die firma kulant mit dem thema umgeht, soll man ein auge zudrücken und es nicht veröffentlichen, oder es war zu hören, dass es beim ein oder anderen problemlos funktionierte, das problem also möglicherweise bei mir läge. zu letzterem: es lag ganz sicher nicht an mir; ich habe auch andere mieter schwitzend umparken sehen, bevor sie das auschecken schafften oder nicht. außerdem ist den anbietern das problem bewusst. (siehe oben) drivenow schrieb inzwischen, man arbeite mit dem flughafen zusammen an einer lösung – das könnte auf eine zukünftig andere parkposition für die carsharing-autos hinweisen). auf die erste reaktion kann ich nur sagen: wenn ein system einen grundlegenden defekt hat, muss man offen damit umgehen. nur so kann der anbieter das problem sehen und handeln.

worthülse “autismus” | minihörspiel wdr 5

Axonometric_cubes_withChaossymbolbild für die mischung aus chaos der umwelt und innerem verlangen nach ordnung. grafik: m.s.

meine redakteurin in wdr5/politikum tamara und ich überlegten am letzten freitag, was das dramolett, also das tagesaktuelle minihörspiel für den heutigen mittwoch sein könnte. wir müssen uns so früh absprechen, weil sich so ein stück nicht an einem tag herstellen lässt. die schritte sind:

  • themenfindung (freitag)
  • sprecher über die wdr sprecherdispo und den sehr kenntnisreichen jörg kernbach anfragen bzw. bestellen (freitag)
  • plot überlegen (wochenende)
  • manuskript schreiben und besprechen (montag)
  • die sprecher aufnehmen (dienstag)
  • produktion, also schnitt, musikkomposition, mischung (dienstag)

das stück war dienstag nachmittag fertig. ein sehr ernstes stück, das den autistic pride day am mittwoch zum anlass nimmt, aus dem innenleben einer autistin zu berichten, die den gebrauch des worts “autismus” als worthülse zutiefst verurteilt. ausgangspunkt dafür war für mich ein blog der im letzten jahr verstorbenen kölner autistin sabine kiefner. vorn und hinten habe ich das motto ihres blogs zitiert:

Das größte Problem autistischer Menschen ist nicht der Autismus, sondern das Leben und Zurechtfinden in einer nichtautistischen Welt.

außerdem habe ich kernargumente aus ihrem offenen brief an stefan niggemeier paraphrasiert, wo sie dessen leichtfertige benutzung anprangert. der größte teil des texts ist rein fiktiv, von mir; es entsteht eine kleine medienkritik von faz über zeit bis bild. tanja haller spielt beide weiblichen rollen, martin groß spricht die zitate.


dramolett “worthülse autismus” mit tanja haller und martin groß

einiges zur aufnahme- und mischtechnik. die schauspieler nahm ich in einem wdr-studio auf. der kollege am pult musste immer wieder die empfindlichkeit des mikrofons ändern, weil die stimmen meist sehr sehr leise sprechen, manchmal aber sehr laut sind. einige takes hat tanja vom mikrofon weg gesprochen; es klingt dann, als würden zwei personen miteinander sprechen, in verschiedenen räumen, obwohl es derselbe aufnahmeraum war. diese stellen sind am anfang und am schluss zu hören, wo die protagonistin zu tanja sagt, sprich langsam, und tanja sie beruhigt.

im screenshot unten ist das mischfenster zu sehen. die zahl der spuren – hier waren es sieben – schwankt je nach produktion. es können auch mal nur vier sein, in anderen fällen 15. ich finde, einer produktion sollte man die zahl spuren nicht anhören.

montageAutisten_screenshotmisch-fenster für die produktion des minihörspiels (bei klick wird es größer)

im oberen bereich sieht man die gesamte komposition. der große fensterinhalt darunter zeigt die einzelnen aufnahmeschnipsel mit ihren wellenformen. auf der ersten spur sitzt tanja, die nach innen gerichtete hauptstimme. sie ist die leitstimme, sie erzählt die geschichte; ich habe ihr deswegen eine minimale kompression gegeben, was man am “fx” links in dieser spur sieht. auch die zweite spur hat einen fx, nämlich einen hall. es gibt in dem hörspiel einige stellen, wo martin “autisten” ruft; diese befinden sich in dieser spur. spur 3 ist leicht links gepegelt; hier habe ich stimmen untergebracht, die ich räumlich trennen wollte. ebenso in spur 4, leicht rechts gepegelt. auf dieser spur befinden sich auch alle autistenfeindlichen pressezitate, gesprochen sehr nah am mikrofon von martin groß.

spur 5 ist eine von mir eigens dafür komponierte musik. ich habe dafür zunächst politikerreden genommen und auf ihre “ich”s reduziert. dann wählte ich zwei (digitale) musikinstrumente – kirchenorgel und jagdhorn – aus und begleitete die politiker (westerwelle, kohl, merkel, bush, rumsfeld, schavan etc.), wie sie “ich”, “mein”, “mir” sagen, mit orgel und jagdhorn. diese musik entstand in einer so genannten sequencing software, also nicht in diesem programm. die spur ist sehr dominant, wenn man sie durch das hörspiel durchzieht. deswegen habe ich sie nur an bestimmten stellen eingesetzt, und ziemlich leise gepegelt. hier ein isolierter part daraus:


autismus-musik; ausschnitt

spur 6 besteht aus einer aufnahme in der u-bahn, direkt nach der schauspieleraufnahme, vom wdr in mein büro. mir ging im kopf herum, welche atmosphäre ich dem stück geben möchte, viele dinge wären möglich gewesen, und nahm einfach mal die atmo in der u-bahn auf, brummelte selbst dabei leise vor mich hin. hier ein ausschnitt:


summen in der u-bahn; ausschnitt

als ich diese atmo unter den text legte, funktionierte das in etwa. mir fehlte aber die wärme, die tiefe. statt die bässe in der aufnahme anzuheben, entschied ich mich für einen kunstgriff, den ich häufig anwende: ich kopierte die atmo auf die spur 7 und stimmte sie tiefer, in diesem fall um 24 halbtöne, also zwei oktaven. die beiden spuren, leicht rechts und links gepegelt, klingen zusammen fantastisch:


summen in der u-bahn; zweistimmig

das besonderen an diesen elementen auf den spuren 5, 6 und 7 ist, dass sie dem hörer kaum auffallen, weil er sich ja auf den text konzentriert, aber das ganze stück in eine stimmung hineinlenken, der er sich nicht entziehen kann. musik leistet das auch, aber meist platter.

von jungen kollegen werde ich oft gefragt, welche software ich für diese produktionen nutze. ich gebe dann meistens diese antwort: es gibt so viel gute schnitt- und mischsoftware, dass es nicht der rede wert ist, ein produkt beim namen zu nennen. dass ich mit einer älteren version von wavelab (und für die musikkomposition mit cubase) arbeite, ist wirklich nebensächlich; ich kenne dieses programme, denke mir manchmal, sie sind mir zu üppig, manchmal, sie sind mir nicht geradelinig genug, aber ich mag sie beide, und sie tun seit über 10 jahren ihren dienst.

nackte soldatentatsachen | buchrezension

der für seine comics, seine historischen und erotischen bildbände bekannte kölner verlag taschen (gegründet und geleitet von benedikt taschen) hat seit gut 10 jahren eine eigene “sexy books”-redakteurin, nämlich dian hanson; hier der etwas dürftige artikel über sie in der englischen → wikipedia.

legShowMagazine1998leg show war das erfolgsmagazin von dian hanson, benedikt taschen begeisterter leser.

ich habe vor fünf jahren hansons big book of legs (und später das big butt book – siehe ganz unten) im wdr besprochen – nicht weil mich die frauenbeine interessierten, vielmehr interessierte mich der werdegang einer frau, die einmal model war, dann als sexjournalisten für hardcore-pornos schrieb, ein fast schon bankrottes bein-fetisch-magazin (leg show) wieder hochbrachte und die jetzt mehrere erfolgsbücher bei einem weltweit renommierten verlag veröffentlicht.

damals erzählte sie mir viel über die szene der beinefetischisten. beine-zeitschriften florierten in den usa bis in die 1960er jahre, ja, der inbegriff des pornohefts war mitte des letzten jahrhunderts das mit den frauenbein-fotos. es gab fotografen, allen voran der pionier der fetisch-fotografie elmer batters, die (so steht es ausführlich im großen beinebuch von dian hanson) genau wussten, wie sie für welchen strumpftyp welches licht setzen mussten. die beine durften ja nicht speckig wirken, nur weil die lichtreflexionen an den falschen stellen waren; die models verbrannten sich manchmal wegen des erhitzten kunststoffs fast die haut. es erinnert an die food-fotografie mit ihren bizarren tricks und techniken.

das interview mit dian hanson war spannend, weil ich mich vorher nie mit dem thema beschäftigt hatte und dann solche dinge herauskamen (aus meiner Rezension damals):

Mitte der 70er Jahre verschwanden die Beinmagazine fast völlig vom Markt. Dafür gab es nur einen Grund: eine Liberalisierung der Gesetze, was man von einem nackten Körper abbilden darf. „In dem Moment, als es legal wurde, die weiblichen Genitalien zu zeigen“, sagt Dian Hanson, „vergaßen die Kunden die Beine. Alle waren auf einmal verrückt nach Schamhaar.“

→ hier das ganze manuskript

daraus spricht hansons zunehmende beschäftigung mit der geschichte der (nackt)fotografie. sie hat da ihre etwas eigenen theorien: die befreiung der frauenbeine in den 1920er jahren mit tänzen wie den can-can stellt für sie eine befreiung der frauen dar. das ist sicherlich nur eine seite der medaille. genauso wie sie bei ihrem neuen buch, das ich gestern und heute in wdr und deutschlandfunk besprach, ihre sehr eigene sicht auf den zweiten weltkrieg äußert. ihr neues buch heißt nämlich my buddy. world war II laid bare und zeigt hunderte, wenn nicht tausend spärlich uniformierte bis splitternackte soldaten in friedlichsten szenerien, meist badend, duschend, schlafend, zusammen vom kriegsschiff in den pazifik hechtend, mit büchern auf latrinen sitzend. der krieg ist nicht zu sehen.

WWII_naked_soldiers_183eins von hunderten fotos aus einem “idyllischen” 2. weltkrieg. © michael stokes collection/taschen

ich empfand dieses ausblenden der grausamkeiten (es gibt in der sammlung von michael stokes, einem uniform-fetisch-fotografen, der die meisten fotos für diesen band gesammelt hat, durchaus brutale aufnahmen nackter leichen; die hat hanson aber nicht in den bildband aufgenommen) legitim und typisch taschen, aber sefa suvak, meine redakteurin in wdr 5 scala, war entsetzt über diese verdrängung: sonnige penisbilder in einem für vermutlich alle abgebildeten penisträger traumatisierenden krieg! michael stokes und dian hansons argumentieren, diese harmlosen, 70 jahre alten nacktfotos stammten aus einer zeit, als homophobie im militär noch nicht in der luft lag wie heute, die soldaten also unverklemmte a-sexuelle kumpelhaften beziehungen pflegen konnten. außerdem, so hanson, gab es solche massenhaften nacktfotos im zivilleben nie. der zweite weltkrieg war also nur ein fast zufälliger rahmen für diese einige hundert fotos.

hier ist mein beitrag, der gestern im wdr und heute in halb so langer fassung im deutschlandfunk (corso, kultur nach 3) lief:

 
rezension von “my buddy. ww II laid bare” im wdr

hier ist mein vier jahre älterer beitrag, der im juni 2010 in wdr/mosaik lief:


rezension von “The Big Butt Book” im wdr 2010

glasnegativ | positiv gemacht

bei ebay ging heute für 12,99 € plus porto ein glasnegativ über die bühne, format 9 x 12 cm, weiter keine angaben. der verkäufer zeigte diesen “dachbodenfund” als negativ, wie im bild unten links.

wenn das bild digital “enwtickelt”, also die grauwerte einfach umkehrt, entsteht aus dem negativ ein positiv (bildmitte); das wirkt schwach und flau, viel uninteressanter als das negativ. dass es so uninteressant wirkt, liegt auch daran, dass wir in einem negativ eine stimmung meinen zu erkennen, die beim umkehren völlig dahin ist. das bild landet dadurch ja in der wirklichkeit, wie wir sie kennen, wird also trivial.

durch eine kontrastanhebung, ohne die mitteltöne zu stark ins weiß oder schwarz zu drängen, sieht das bild dann ganz intakt aus (rechts).

der kunde, der das schöne stück ersteigert hat, wird damit seinen spaß haben, denn ein großformat von 9 x 12 lässt sich sehr groß ausbelichten – durchaus auch auf litfass-säulen-größe. der fotograf ist unbekannt. sicher stand die kamera auf einem stativ.

glasnegativ_1920erJahreglasnegativ (links), umgekehrt, kontrast-verstärkt (rechts). vermutlich 1920er jahre.

wer fährt den geparkten wagen eigentlich? wenn wir uns das näher ansehen (bild unten), sitzen auf der hinterbank drei personen. die linke scheint eine motorradbrille auf zu haben, die rechte ist eine frau mit hellem 20er jahre-hut, die sich an den mann in der mitte anschmiegt. der platz vorn am lenkrad ist frei; er gehört dem mann, der auf dem foto stolz neben dem wagen steht. wir sehen in der vergrößerung auch die kühlerfigur. ich kann sie allerdings nicht deuten.

glasnegativ_1920erJahre_detaildie passagiere (detail des bilds oben)

resektion in kölns augusta hospital| um 1900

ich weiß, wie es in solchen instituten riecht, damals wahrscheinlich noch einiges penetranter. das foto zeigt die pathologie in einem nicht mehr existenten krankenhaus in köln. es stand an der zülpicherstraße 41, direkt am südbahnhof, und wurde im 2. weltkrieg bis aufs fundament zerbombt. auf dem großen gelände befinden sich heute diverse universitätsinstitute, etwa das für geologie und mineralogie.

Resektion-um1900-Köln-Augusta-Krankenhausarzt und assistent sezieren eine leiche im augusta hospital köln, zülpicher straße. um 1900. fotograf: unbekannt

kollege wolfgang n. ergänzt via facebook: oben sieht man die rohre für die gaslampen.

über das augusta hospital ist wenig herauszufinden. ich habe mal eine rechercheanfrage ans uniklinikum köln geschickt, weil das dokument → unten einen hinweis darauf gibt, dass die klinik mit der uniklinik zusammenhing. es ist ein dokument über einen jungen arzt aus düren, der u. a. an der “medizinischen klinik (augusta hospital) der universität köln” ausgebildet wurde. man hat diesen kinderarzt karl leven, weil er jude war, schikaniert, die praxis zerstört, zusammen mit seiner frau und seinen drei kleinen kindern deportiert und vermutlich im vernichtungslager sobibor umgebracht. der text findet sich in eduard seidlers buch jewish pediatricians: victims of persecution 1933–1945.

 

karlLeven_Arzt_Köln_Holocaust

mittelmeer saugt elektrizität ab | 1911

Rudolf-Goldschmidt-ca.1910-Archiv TU-Darmstadtrudolf goldschmidt, um 1910. foto: TU darmstadt

rudolf goldschmidt war ein goldstück der frühen deutschen telegrafiegeschichte (übrigens ein freund albert einsteins, → gemeinsame patentschrift 1933). ich las einen bierernsten, fast deprimierenden vortrag, den er 1911 hielt, und darin eine sehr schöne stelle, die ich in den wikipedia-artikel über ihn einfügte:

Er gehörte der Kolonial-Technischen Kommission des Deutschen Reichs an, einer Unterabteilung des für die Erschließung und Ausbeutung der Kolonien zuständigen Kolonialwirtschaftliches Komitees. Dort hielt er Anfang 1911 einen Vortrag zu den Problemen drahtloser Telegrafie zwischen dem Reich und Afrika. Die Probleme schienen ihm damals unüberwindbar. Zwar hätten Experimente Entfernungen von 6000 km (wie zwischen Deutschland und Kamerun) überbrücken können, jedoch seien diese Verbindungen völlig instabil. Er trat aber auch pseudowissenschaftlichen Einwänden entgegen:

„In neuerer Zeit sind nun, wie gerade aus der letzten Nummer der Elektrotechnischen Zeitschrift hervorgeht, Vermutungen dahin ausgesprochen, daß überhaupt nicht nach Afrika telegraphiert werden kann, weil über dem Mittelländischen Meere eine Art Scheidewand lagere, die Afrika von Europa elektrisch trenne, daß als die elektrischen Wellen, wenn sie an das Mittelländische Meer kämen, elektrisch aufgesaugt würden. Man hat aber tatsächlich schon über diesen Gürtel hinüber telegraphiert, und ich glaube nicht, daß dort große Schwierigkeiten entstehen werden, wenn nur eben die Kräfte, die man verwendet, groß genug sind.“[1]
kolonialtechnische-Kommission-1_1910

rolling stones | abpressende 70jährige

über die rolling stones kann man kaum mehr etwas neues sagen. aber man kann es etwas anders als üblich sagen, und dazu fand ich in der heutigen frankfurter allgemeinen zeitung diesen halbsatz: “…beweist, dass sie, wenn sie wollen, ihren ausgemergelten Körpern und Seelen immer noch Überzeugendes abpressen können.”

rolling-stones-edo_reents-FAZ-13.6.2014FAZ von heute, feuilleton, rolling stones konzertkritik, edo reents

ein auch grammatikalisch interessanter satz, weil erstens angeblich das semikolon ausstirbt (hier ist es wieder), und weil er die leichtigkeit zeigt, mit der wir deutschen schachteln können. kollege edo reents schachtelt so fein, dass er sogar ein komma zuviel in kauf nimmt. wer findet es?

noResultsForAbpressen_oxfordDictoxford dictionaries: kein “abpressen” möglich

dessau 1945 | moderne zerstört

bauhaus_meisterhaus_unscharfmeisterhaus dessau, unscharf. foto: m.s.

dank des buchs ”dessau 1945 – moderne zerstört”, herausgegeben von philipp oswalt, edition bauhaus 45, fing ich an, dies und das in diversen wikipediaartikeln zu ergänzen, etwa im artikel über das bauhaus dessau diese passage:

1931, also gut ein Jahr vor Hitlers Machtergreifung, gewann die NSDAP bei den Gemeinderatswahlen in Dessau 15 der 36 Sitze und war damit stärkste Fraktion. In ihrem Flugblatt zu den Wahlen am 25. Oktober 1931 forderten die Nationalsozialisten als ersten von acht Punkten:

„Sofortige Streichung sämtlicher Ausgaben für das Bauhaus. Ausländische Lehrkräfte sind fristlos zu kündigen, da es unvereinbar ist mit der Verantwortung, die eine gute Gemeindeführung gegenüber ihren Bürgern zu tragen hat, daß deutsche Volksgenossen hungern, während Ausländer in überreichlichem Maße aus den Steuergroschen des darbenden Volkes besoldet werden. Deutsche Lehrkräfte sind durch Vermittlung der Gemeinde in Dessau oder anderwärts unterzubringen. Für die im Bauhaus befindlichen Handwerkerschulen ist Unterkunft andernorts zu schaffen. Der Abbruch des Bauhauses ist sofort in die Wege zu leiten.“[1]

für solche fälle, wo bücher dem anreichern der wikipedia dienen, gibt es eine von der wikimedia deutschland e. v. eingerichtete stelle zur kostenerstattung, hier 30 €. wir regelmäßigen wikipediaautoren werden ausdrücklich von dem verein (der die spendengelder einsammelt und die programmierer und die server bezahlt) ermuntert, uns solche literatur erstatten zu lassen. ich schreibe das hier, weil es zeigt, wofür ein winziger teil der erheblichen spendengelder, die die wikipedia so bekommt, auch verwendet wird. viele wikipedia-autoren kritisieren, dass die gelder auch für viel “unsinniges” ausgegeben werden, etwa für kooperationen mit wissenschaftlichen einrichtungen. lange geschichte…

bauhaus dessau | vergangenheitsbewältigung

bauhaus_Dessau_logo2014 restauriertes bauhaus-zentralgebäude. foto: m.s.

die bauhaus-idee begann kurz nach dem ersten weltkrieg in weimar, startete dann in den 1920er jahren in dessau durch und endete abrupt ebenda 1932. → bauhaus in dessau.

wie kam es überhaupt dazu, dass in einer kleinen industriestadt eine dermaßen progressive kunstakademie entstand? welches flair des aufbruchs musste da geherrscht haben, dass, wie uns jetzt bei einer führung durchs frisch renovierte hauptgebäude klar gemacht wurde, mehrere städte – auch frankfurt am main – den bauhaus-gründer walter gropius umwarben, die geplante hochschule doch bei ihnen einzurichten. die wahl fiel auf dessau, und das makabre daran ist, dass dessau wegen der noch jungen flugzeugindstrie am ort für die bauhaus-gründer attraktiv war. bauhaus/form/material/werkstoff/metallverarbeitung. im werk des hugo junkers ließen sie ihre möbel schmieden. genau wegen dieser damals noch friedlichen industrie wurde dessau gegen ende des zweiten weltkriegs fast vollständig zerstört. dessau war für die alliierten zurecht synonym mit der rüstungsindustrie und dem luftkrieg der deutschen. hier konstruierten die nachfolger hugo junkers jagdflugzeuge und bomber in großserien.

hugo junkers’ biografie trifft sich mit der des bauhaus anfang der 1930er jahre, noch bevor hitler 1933 an die macht kam: sein werk ging pleite; er selbst bekam wegen seiner distanz zu den nazis stadtverbot. und was das bauhaus anging: die größte fraktion im rathaus dessaus, die NSDAP, schaffte die bauhaus-akademie mit der begründung ab, sie sei eine jüdisch-marxistische veranstaltung (die DDR später lehnte das bauhaus ab, weil es zu bürgerlich war). ein halbes jahr vor hitlers machtergreifung, also 1932, war schluss mit bauhaus, das bauhaus-kernpersonal aus den so genannten meisterhäusern ausgezogen.

meisterhausFeiningermeisterhaus 2. hier wohnte lyonel feininger. foto: hans weingarz, 2004. wiki commons

interessant, was baulich danach mit den über die stadt verteilten gebäuden geschah. die elite der neuen junkers-werke liebte die meisterhäuser, die die nazis eigentlich abreißen wollten, und zogen mit ihren familien ein. das hauptgebäude der akademie sollte ebenfalls abgerissen werden, diente der NSDAP dann aber für schulungen. der bauhaus-schriftzug wurde selbstverständlich entfernt, zahlreiche wände eingezogen, das stets defekte flachdach durch dachschrägen ersetzt. bei den meisterhäusern flogen die großen fenster raus und wurden durch kleinere ersetzt. zu DDR-zeiten wurden die fenster nochmal kleiner. erst nach der wende ging man die restaurierung ernsthaft an, massiv unterstützt durch die gelder der unesco, die das ganze areal zum kulturerbe erklärte.

ein jetzt anlässlich der fertigstellung erschienenes buch (“dessau – moderne zerstört”) weist darauf hin, dass man nicht vorgehabt habe, den mythos bauhaus durch eine naturgetreue restauration neu aufleben zu lassen. im gegenteil: es fehlen die innenausstattungen und viele ursprünglich existierende wände und türen. der besucher wird auf eine rohform zurückgeworfen, die es so gar nicht gab.

wie problematisch der mythos ist, sieht man schon daran, dass zwar die bauhaus-urväter emigrierten oder stillhielten, ein nicht unwesentlicher teil der im bauhaus ausgebildeten architekten aber unter den nazis karriere machte: fritz ertl etwa errichtete nach bauhaus-kriterien das vernichtungslager auschwitz.

jaron lanier | interviewausschnitt von 2011

Jaron-Lanier---Bagpipingjaron lanier spielt eins seiner historischen blasinstrumente (2009, wiki commons)

im spätherbst 2011 habe ich jaron lanier interviewt; er war in einem studio in berkeley, ich in köln. anlass war die reihe “digitale masterminds” im deutschlandfunk, für die ich über die jahre 12 größen der IT vors mikro bat, unter anderem auch jaron. jaron ist autodidakt, er war ziegenhirte und kann ziegenkäse herstellen. er hat, erzählte er mir, eine schwäche für tintenfische. wir stritten kurz über seine vergangenheit in der KI-forschung; er gilt als mitbegründer (aber nicht erfinder!) des begriffs der “virtuellen realität” – diese großen und mit enormen steuergeldern gestützten versprechen der IT der 1980er und 1990er jahre kamen mir damals schon suspekt vor, heute gelten sie als gescheitert und treten – sehr bescheiden, sehr sympathisch – auf ganz kleinem niveau wieder in erscheinung.

heute gab der börsenverein des buchhandels bekannt, dass jaron lanier den friedenspreis des buchhandels 2014 bekommen wird. um zu hören, wie er klingt und tickt, ein nur halbminütiger ausschnitt aus meinem interview. jaron sagt im prinzip:

“Das Internet ist falsch aufgebaut, es setzt auf Daten, statt auf Menschen. Es konzentriert sich auf die Server und die Cloud, statt das Menschliche zu feiern. Die Betreiber der Server haben das große Geld – Facebook zum Beispiel. Wir können nicht weiterhin eine hinlänglich funktionierende Demokratie oder einen einigermaßen erträglichen Kapitalismus haben, wenn uns nichts einfällt, das Internet zu einem Ding der Menschen statt der großen Server zu machen.”


interviewausschnitt: jaron lanier über die unmenschlichkeit des internets. © m.s.

zu einem gespräch über lanier ludt mich die redaktion von “scala” (WDR 5) live ins studio ein. hier lässt sich das → ein paar monate lang nachhören. und unten: das ist ein foto, das er mir vor drei jahren für die sendung im deutschlandfunk zur verfügung stellte.

Jaron-Lanier---2011jaron lanier, 2011. foto: jonathan spraque

schauspieler tot | trotzdem auf leinwand?

das ist eine frage, die ein leser der nazi-filmzeitschrift der stern im herbst 1939 stellte:

leserbriefSTERN_1939_verstorbeneSchauspielerleserbrief im STERN 1939

die redaktion beantwortet das mit augenzwinkern –und sieht dabei nicht, dass es sich um ein medientheoretisches goldstück handelt. muss ich gleich mal wolfgang ernst sagen…

den wikipedia-artikel über diese nur zwei jahre erschienene und bemüht unpolitische zeitschrift habe ich angelegt, nachdem mir ein dutzend hefte sozusagen (via ebay) vor die füße fielen. es waren fürs wikipediaschreiben einige recherchen notwenig, vor allem um verbindungen zwischen dem 1938/39er-stern und dem nachkriegs-stern wasserdicht zu machen.

denn obwohl der gründer des nachkriegs-sterns nie etwas von einem vorkriegs-stern gewusst haben wollte, ist heute klar, dass es durchaus eine verbindung gab, nämlich über den herausgeber des ur-sterns kurt zentner, der im nachkriegs-stern nannens stellvertreter war.

dieser wiki-artikel wurden später mancherorts zitiert und soweit ich weiß auch in einer promotion verwertet. → hier noch bisschen mehr zum STERN von damals.

keiner weiß, wo die rechte an dieser fast in in vergessenheit geratenen zeitschrift heute liegen könnten. wenn es jemand weiß, möge er sich melden. glaube, ich trete niemandem auf die füße, wenn ich das titelfoto des hefts mit dem rührenden leserbrief hier wiedergebe.

derSTERNtitel_nov1939titelbild der ausgabe 45 des STERN, mit maria sazarina. foto: stern-quick

new york times | interne zahlen

in einem geleakten (oder sagen wir besser: nach außen gedrungenen) dokument aus dem intranet der new york times vom märz 2014 sind einige interessante fakten zu lesen. man kann ihnen trauen, weil die times da selbst gar nicht gut abschneidet. der “Full New York Times Innovation Report” zeigt zum beispiel eine (sicherlich nicht geheime, aber branchen-interne) statistik über die leserschaft:

newYorkTimes_internalStatistics_2014statistik der leserzahl von sechs zeitschriften in den USA

nach dieser aufstellung führt die huffington post seit anfang 2013, buzzfeed ist etwa auf einem niveau mit der times (rund 50 millionen leser). an der tiefroten kurve (eben die der new york times) ist auch bemerkenswert, das sie anfang 2013 etwa auf dem niveau von heute war, wobei es ein tief im august 2013 gab (40 millionen leser). außerdem ist die summe der leserschaft ingesamt seit einem jahr drastisch gestiegen. wenn man alle sechs kurvenwerte im april 2013 aufsummiert, kommt man auf etwa 240 millionen leser, im januar 2014 auf 310 millionen. das kann mehrere gründe haben. der naheliegendste wäre, dass mehr menschen zeitungen lesen, vor allem im internet. es kann aber auch bedeuten, dass den anderen publikationen die leserschaft wegbricht und wir hier nur die sechs großen player sehen, die entsprechend hinzugewinnen.

das interne papier beschreibt die aktuelle lage des internets als “cluttered”, also verzettelt/chaotisch, und die smartphonekultur als “distracted mobile world” (mobile welt der ewigen ablenkungen). zwei negative konnotationen also: “cluttered” und “distracted”. interessante ausgangsposition für die interne debatte, die dann damit weitergeht, dass angesichts dieses online-durcheinanders ein erfahrener nachrichtenredakteur sich nur um leser-acquise kümmern soll.

NYT_abos_2014zahl der leser der new york times über verschiedene verbreitungswege (2014)

auch diese (von mir visualisierten) zahlen sind interessant. sie betreffen nur die new york times. leider sehen wir hier keine zeitliche dynamik, sondern einen status quo von vermutlich anfang 2014. 30 millionen amerikaner (also mit US-IP-adressen) besuchen die webseite der times pro monat, 20 millionen tun es über die apps auf ihren tablet-computern und smartphones. die print-abos fallen dagegen ins marginale ab. ich schätze, sie waren vor einigen jahren viel viel mehr.

eine für die marketing-abteilung der zeitung besonders wichtige zahl ist die ganz oben: 760.000 abonnenten für die digitale new york times ist eine sicherlich wachsende, aber erstaunlich geringe zahl. sie besagt: nur 1,5 % aller leser der online-zeitung haben sie abonniert. mit diesem thema beschäftigen sich zurzeit alle printmedien. im grunde kämpfen sie damit, die kleine zahl nach oben zu bringen. die new york times macht das durch eine doppelstrategie: einerseits beschränkt sie die zahl der artikel, die man kostenlos online lesen kann (zurzeit auf 12 pro monat; es gibt tricks, darum herum zu kommen), andererseits lockt sie registrierte leser mit abonnements, die teilweise sehr preisgünstig sind. ich habe zurzeit eins, mit dem ich für drei monate $ 1 zahle. danach würde es viel mehr kosten, aber ich habe bereits gekündigt, sodass diese option nach drei monaten endet.

ich hielt vor einigen wochen auf dem dokumentarfestival in münchen einen vortrag über öffentlich-rechtliches senden und archive, worin auch das buhlen um hörer (und zuschauer) thema war. eine am rand gesetzte these möchte ich hier wiederholen: ein gutes programm wird von den hörern gefunden. man muss sich als radiomacher nicht anbiedern, wie die kommerziellen medien es tun müssen.

achso, der new york times-interne report ist → hier zu finden, also ausgerechnet beim onlinekonkurrenten buzzfeed. im →  wikipedia-artikel über buzzfeed sieht man die personelle verknüpfung zwischen buzzfeed und der online alles dominierenden huffington post.

“das reich der frau” | 1933

in der katholischen zeitschrift “deutscher hausschatz” (siehe dazu den eintrag → hier) gab es viele jahre die rubrik “Das Reich der Frau”. in der ausgabe vom august 1933 (59. jahrgang!) beschreibt helene seyfried (von der man nie mehr etwas gehört oder gelesen hat) die beziehung zu ehemann und kindern wie folgt. zunächst die kinder, überschrift “Das Minderwertigkeitsgefühl bei Kindern”:

„Man ist oft versucht zu glauben, der ‘Minderwertigkeitskomplex’ bei Erwachsenen werde nur vorgetäuscht, weil er gerade in Mode ist. […] Na, das sind so kleine menschliche Schwächen, die man nicht tragisch zu nehmen braucht. Ernster und tiefgreifender ist jene Minderwertigkeit, die man von anderen Menschen zum Vorwurf bekommt. Da ist zum Beispiel junges Menschenkind, das den besten Willen hätte, tüchtig zu sein, aber von einem in alten starren Anschauungen verknöcherten Vater oder einer ewig unzufriedenen Mutter ständig vorgehalten bekommt: ‘Du bist nichts und kannst nichts, aus dir wird nie etwas Gescheites werden, alles fängst du verkehrt und unpraktisch an!’ Es wäre viel gescheiter, die Eltern würden ihrem Kind beibringen, wie es eine Sache besser machen kann, statt ständig, seine Leistungen herabzusetzen. Dadurch wird ja des Kindes ganzes Selbstbewußtsein, sein ganzer Geltungstrieb, der im späteren Leben so notwendig wäre, unterdrückt6 und vernichtet. Und mit der Zeit glaubt das Kind ganz von selbst, daß es tatsächlich nichts ist und nichts kann und es niemals zu etwas bringen wird.“

es wäre kein katholisch-konservatives blatt, würde die autorin nicht hinterherschicken, dass eine gesunde mischung aus “kleinem lob” und “kleinem tadel” genau das richtige für das kind sei.

Neglected_child_L.W.-Hine_1917 vernachlässigtes kind (neglected child), 1917, oklahoma city. foto: l. w. hine

in sachen mann und ehe hat helene seyfried eine einzige message: er bringt in einem harten job das geld ins haus, also soll sie ihn nicht mit dingen aus ihrem alltag belästigen, sondern, so der tipp an die hausfrau:

„…lege deine Erholungsstunden so, daß sie mit denen deines Mannes zusammenfallen.“


ps.: das foto oben hat nichts mit der zeitschrift zu tun; ich fand es in den wiki commons. der fotograf, lewis hine, hat zahlreiche fotos gemacht, die soziale unterdrückung, ausbeutung und verwahrlosung zeigen.